Helmut Gollwitzer



Der Pfaffe und die RAF – Helmut Gollwitzer
Predigt von Prof. Dr. Helmut Gollwitzer am 20. Juli 1963 in der St. Annen-Kirche, Berlin
Nicht in den Himmel gucken

Gott will, dass von uns Menschen nicht ein Geist des Hasses, der Bitterkeit und der Angst ausgeht, sondern ein Geist der Freude und der Liebe. Gott will, dass keiner von uns wartet, bis die Anderen ihn lieben, sondern dass jeder von sich selbst aus den Anfang macht.
Helmut Gollwitzer

Ein Grundsatz der Demokratie ist Misstrauen gegen Obrigkeit,
Kontrolle der Obrigkeit durch die Bürger.

Durch die Gespräche mit seinem engen Freund Rudi Dutschke konnte sich Gollwitzer wieder als Marxist bezeichnen. Dutschke, der die DDR und Sowjetunion als „Staatssklaverei“ bezeichnete, sah wie Gollwitzer den Marxismus nicht als dogmatisches System, sondern als Werkzeug kritischer Analyse. Der entscheidende Kompass blieb für Gollwitzer aber
„das Reich Gottes für die Welt“.
Dutschkes Frau Gretchen, die bei Gollwitzer Theologie studierte, faszinierte, „dass Gollwitzer ein Christentum wichtig war, das nicht in den Himmel guckt, sondern etwas hier auf der Erde bewirken will“. Die Dutschkes erhielten auch Schutz in seinem Haus und er hielt die Trauerrede für den Wortführer der Studentenbewegung. Gollwitzer war als einer der wenigen Professoren damals für viele in der Außerparlamentarischen Opposition Wegweiser. (…)

Die Nacht wird nicht ewig dauern.
Es wird nicht finster bleiben.
Die Tage, von denen wir sagen,
sie gefallen uns nicht,
werden nicht die letzten Tage sein.
Wir schauen durch sie hindurch
vorwärts auf ein Licht,
zu dem wir jetzt schon gehören
und das uns nicht loslassen wird.
Helmut Gollwitzer

Die christliche Botschaft ist das große Verbot der Resignation und die große Erlaubnis zur Hoffnung.

MIT ZUVERSICHT LEBEN – Helmut Gollwitzer, Christ und Sozialist
In seinem Bericht „Die reichen Christen und der arme Lazarus“ über die IV. Vollversammlung des ÖRK sowie in seinem Vortrag auf der Herbstsynode der Evangelischen Kirche in Deutschland „Die Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter“ entwirft er seinen ethischen Ansatz: „Was christlicher Glaube ist, kann nicht mehr anders ausgesagt werden als in Bezug auf das politisch-soziale Leben des Menschen, im Blick auf den Zusammenhang des Individuums mit der Gemeinschaft, im Aufweis der politischen Konsequenzen des Evangeliums. Glaubensbekenntnisse, die nicht irdische, diesseitige Veränderungen tief in die Gesellschaft hinein zur Folge haben, sind Privatvergnügen und deshalb irrelevant … Ein Satz, der unser Verhältnis zu den anderen Menschen und zur Gesellschaft beim Alten lässt, ist nicht wert, ein Satz christlichen Glaubens zu sein. Nur durch verändertes Verhalten im Diesseits können wir heute die Relevanz des Glaubensbekenntnisses bezeugen. Damit handelt sich Gollwitzer den Vorwurf der ‚Politisierung der Kirche‘ und des ‚Eingreifens in ein fremdes Amt‘ ein. Die Kirche verfehle ihren eigentlichen Auftrag, wenn sie sich so dem Uneigentlichen widme. Helmut Gollwitzer widerspricht heftig:
Die Kirche habe nur zu tun, was ihrem eigentlichen Auftrag entspricht. Dabei zeige sich in ihren Werken und in ihrem politischen Bemühen um das Wohl der Menschen, wie sie das Evangelium hört und was sie glaubt.
Das Handeln der Kirche habe parteilich zu sein, denn: „Überparteilichkeit ist eine Chimäre, mit deren Verehrung wir uns selbst dienen, nicht aber denen, zu denen wir gesandt sind“. Hier wird Gollwitzers Theologie und Ethik im vollen Sinne ökumenisch: Sie thematisiert nicht mehr nur die Probleme des Nordens „Frieden und Kriegsverhütung“ sowie die Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland, sondern den bewohnten Erdkreis, indem sie sich den Blickwinkel des Südens zu eigen zu machen sucht und von ihm aus Theologie praktiziert. Diese Perspektivenerweiterung kann nicht beschränkt bleiben auf das enge Feld der Theologie, sondern muss ausgreifen auf die gesellschaftlichen und ökonomischen wie die politischen Bedingungen unseres Lebens. So wird Ökonomie zum zentralen Arbeitsfeld Gollwitzers. Er begreift den Marxismus dabei als Anleitung zur gesellschaftlichen Analyse. „Wie kommt krummes Holz zu aufrechtem Gang?“ – das ist Gollwitzers Frage, wenn er nach dem Sinn des Lebens von einer Position aus fragt, die sowohl marxistisch als auch christlich ist. Das Schlüsselwerk der Gollwitzers erscheint 1970. „…dass wir ganz schlicht nichts anderes sein wollen als evangelische Christen und ganz schlicht Anderen deutlich machen wollen, was das heißt“, so der Grundkonsens der „Gesamtpersönlichkeit“ Helmut und Brigitte Gollwitzer. „Viel wichtiger noch ist, ständig im Lernen zu sein, am Anfang zu sein. So am Anfang, dass man auf einmal wieder überhaupt nichts kapiert von all dem, was da gesagt wird, (…) und dann zu lernen anfängt und froh ist, an dieser Sache beteiligt sein zu dürfen.“ … Die Welt hat sich 1989 radikal verändert. Die Frage: „Wie hältst du es mit dem Sozialismus?“ ist historisch geworden. Die Frage: „Wie hältst du es mit dem Kapitalismus?“ bleibt die zentrale Frage. Die Gewissheit der „verbesserlichen Welt“ (Ernst Lange) ist gebrochen. Der allmächtige globale Markt zerstört Erde und menschliches Leben scheinbar unaufhaltsam. Helmut Gollwitzer, der Christ und Sozialist – das scheint alles lange her. Für mich hat Gollwitzers Denken, seine Analyse, seine Botschaft aber nichts an Aktualität verloren. An Gollwitzers Existenz lässt sich erfahren, wie Gott einem Menschen, der sich führen lässt, wohin er nicht will, die
Treue hält und wie solche Treue eigene Antworten herausfordert und ermöglicht.

Christentum – Demokratie – Sozialismus : zum Buch von Helmut Gollwitzer
Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft
Zu den Erkenntnissen, die wir aus den Erfahrungen dieser zehn Jahre gewinnen können, gehört erstens, «daß wir mit einer viel stabileren Gegenmacht zu kämpfen haben, als damals viele meinten: mit der Macht ungeheurer Interessen, an denen von oben nach unten auf vielfältige Weise partizipiert wird …»; zweitens, «daß die tatsächlich Macht habenden Gruppen in dieser Gesellschaft zwar unfähig sind, in dem Maße für die Zukunft zu planen, wie es heute nötig wäre, daß sie aber sehr wohl fähig sind, zur Sicherung ihrer eigenen Gegenwart prophylaktisch zuzuschlagen, potentielle Bedroher ihres privilegierten Status zu Aussätzigen zu stempeln …»; und drittens die Erkenntnis «von der Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie im Grundgesetz der BRD ihren Ausdruck gefunden hat» (II, 46f.). Einerseits ist diese Gesellschaft offen dafür, daß durch Mehrheitswillen eine Beseitigung bürgerlicher Privüegien und damit ein sozialistischer Weg beschritten wird. Andererseits begünstigen die überkommenen Grundstrukturen und Machtverhältnisse, «daß die Mehrheit gar nicht auf diesen naheliegenden, aber gefährlichen Gedanken kommt» (II, 47). Gollwitzer schärft ein, was heute von jedem Revolutionär verlangt ist: «die harte geduldige Arbeit der Aufklärung der Bevölkerung, der Gewinnung der Wahrheit, der Bewährung im Gebrauch der jetzigen Rechte und Freiheiten, damit ihm die Verbesserung dieser Rechte und Freiheiten, die er in Aussicht stellt, zugetraut wird» (II, 29).

Linkes Verfassungsverständnis
Tatsächlich können die «Versprechungen» der Grundrechte erst in einer sozialistischen Demokratie erfüllt werden. Denn für einen Sozialisten gilt: «Solange die Produktionsmittel in Privathand sind, solange nicht die Produzenten selbst über die Produktion und deren Verwertung bestimmen, solange wird die Gesellschaft immer hierarchisch gestaffelt sein, so lange wird wirtschaftliche Macht auch politische Macht zur Folge haben, so lange wird Lohnabhängigkeit im Widerspruch zur staatsbürgerlichen Freiheit stehen, so lange wird formale Demokratie der Vollendung zur materialen Demokratie erst noch bedürfen» (II, 22).

Sozialismus — Kommunismus — Revolution
Gollwitzer will hierzulande verfemten Worten wie Sozialismus und Revolution den Schrecken nehmen. Im Sozialismus soll nicht ein Weniger sondern ein Mehr an Freiheit und Demokratie möglich sein. Eine sozialistische Gesellschaft ist «eine Gesellschaft, die ihren ungleich begabten Gliedern Gleichberechtigung gibt und jedem Glied die Chance ganzer Lebensentfaltung, in der die Starken den Schwachen helfen, in der die Produktion im Dienste aller steht, in der das Sozialprodukt nicht von einer privilegierten Minderheit abgeschöpft wird, so daß den anderen nur der bescheidene Rest zur Verfügung steht, in der geeignete Regelungen die Freiheit und die gesellschaftliche Mitbestimmung aller sichern und die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens zur gemeinsamen Aufgabe und zum reichen Lebensinhalt aller Mitglieder der Gesellschaft wird» (1,8).

Gollwitzers Kritik an der Sowjetunion und anderen Ländern und Parteien ihres Einflußbereichs grenzt sich aber klar vom bei uns herrschenden Antikommunismus ab. Sowjetkritik ist nicht gleich Antikommunismus. Das vergessen bei uns bestimmte Linke. Gollwitzers Kritik erinnert auch daran, daß diese Länder «aus dem kapitalistischen Weltsystem ausgeschieden und damit für dieses, obwohl von ihm — insbesondere vom Weltmarkt — immer noch abhängig, zum zentralen Problem geworden (sind)», und daß sie aus der Hunger- und Verelendungskatastrophe der Dritten Welt ausgeschieden sind. «Mit Sicherheit kann man sagen, daß sie sich mitten in ihr befänden, wären sie nicht in den Bereich des realen Sozialismus einbezogen worden.» Zu betonen ist ferner: «Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt haben ihren Rückhalt an der Existenz dieser Länder.»

Evangelium und Klassengesellschaft
«Die christliche Kirche fand sich von Anfang an in einer Klassengesellschaft vor und setzte sich von jeher aus Angehörigen der verschiedenen Klassen zusammen» (I, 21). Kirche war und ist also nie gleich Kirche, und Theologie nie gleich Theologie. Es fällt Gollwitzer nicht schwer, die Verwobenheit der westdeutschen «Volkskirche» mit den Interessen der Mächtigen im Staat darzulegen. Theologische Fakultäten, Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Steuerrecht, Militärseelsorge und so weiter kann der Staat und die bürgerliche Gesellschaft der Kirche nur zugestehen, wenn es sich dabei nicht um «einen Kult mit besonderen politischen Konsequenzen» handelt, wie es Bischof H. O. Wölber einmal treffend ausdrückte (I, 50). Ein bischöflicher Gast aus der Dritten Welt dazu: «Dieser Kirche ist die Dimension des Leidens verlorengegangen» (I, 24). Desgleichen ist hier akademische Theologie «ihres sozialen Standorts wegen unvermeidlich Theologie von oben, exterritorial zu dem Lebensdruck, den die Konkurrenzgesellschaft auf ihre Glieder — und zu dem spezifischen Druck, den sie auf die breiten Massen der Unterschichten ausübt» (I, 32). Ihre Praxislosigkeit oder ihre Abzielung «auf den Nachwuchs für eine Kaste der Wissenden» im Gegenüber zu «unmündig gewordenen Laien» (I, 33) ist daher kein Zufall. «Organe dieser Volkskirche» stehen deshalb «unter dem gegensätzlichen Druck des Evangeliums und der herrschenden Bedürfnisse und Interessen ihrer Gesellschaft, im Falle des deutschen Protestantismus: der Aengste, Bedürfnisse und Interessen des westdeutschen Bürgertums» (I, 52). Vom eigentlichen Evangelium der Bibel her stellen sich dagegen für die Jünger Jesu andere Aufgaben. Denn ihnen ist durch Jesus «der Wille des Vaters» mitgeteilt. Dieser will «das Leben seiner Kinder. Mein Leben und das Leben der Brüder, das Leben der anderen neben mir, die durch den gemeinsamen Vater meine Brüder sind» (I, 8). Der Jünger Jesu will das Leben derer, die er als seine Brüder erkennt und will diesem Leben dienen. Doch er begegnet der Wirklichkeit der Klassengesellschaft. Die Perspektive, unter der er sich für dieses Leben engagiert, kann nur die der Veränderung der Klassengesellschaft sein, weil sie es ist, die sehr unterschiedliche Lebensmöglichkeiten diesen Brüdern auferlegt. «Die christliche Kirche ist
dazu bestimmt, eine privilegienfreie, herrschaftsfreie Bruderschaft zu sein», und dies nicht als eine «anderslebende Insel», sondern als eine «hinauswirkende Zelle, die sich am Abbau des Privilegiensystems in Zusammenarbeit mit gleichgerichteten Bestrebungen beteiligt» (I, 92 f). Vom Evangelium wird der Christ zum Kampf für eine gerechtere und solidarischere, das heißt eben sozialistische Gesellschaft gedrängt.

ABC in Kapitalismuskritik
Im Stil lebendig ist Gollwitzer auch darin, daß er oft besonders aufschlußreiche Sätze von politischen Freunden und Feinden des längeren interpretiert:
Adolf Grimme: «Sozialisten können Christen sein; Christen müssen Sozialisten sein»
Hans-Otto Wölber: «Unser jetziger gesellschaftlicher Spielraum ist nur haltbar, wenn die Kirche eine wesentliche Stellung über den Fronten hat.» Aber Gollwitzer schreibt nicht primär polemisch. Es geht ihm um die Sache: die Erreichung von mehr Gerechtigkeit und besseres Leben für alle. Die Freiheit des Christen besteht auch darin, nicht dem Freund-Feind-Schema mit seinen verabsolutierten Fronten zu verfallen (I, 28). Und er schreibt nicht als jemand, der immer schon genau wußte, wo’s lang geht, sondern auch als Fragender, ja auch Zweifelnder: «Die Anfechtung, der Kampf sei sinnlos, wird keinem, woher er auch kommen mag, in der heutigen Weltlage erspart bleiben» (II, 109).

Sozialistische Oekumene
Es ist klar, daß eine Sammlung solcher Thesen, Reden, Aufsätze vieles nur skizziert. Die große Richtung wird zwar angegeben. Im einzelnen bleibt aber vieles offen. Auch unterliegt Gollwitzer — wie er selbst ohne weiteres zugibt — sozial bedingten Begrenzungen. Der Bereich gewerkschaftlicher Arbeit wird zum Beispiel nicht behandelt. Wie soll «die realdemokratische Neuorganisierung» der großindustriellen Produktionsweise, die Gollwitzer erwähnt, und die einer der wesentlichen Schritte in Richtung Sozialismus wäre, genauer aussehen (II, 102)? Ebenso bleibt die Welt alternativer Lebensversuche ausgespart, und doch fallen gerade auch hier wichtige Entscheidungen, werden neue Bedürfnisse und andere Werte im Alltag entdeckt … Schließlich kann man über das Verhältnis von Christen und Atheisten anders denken als Gollwitzer, der beides immer sehr voneinander unterscheidet (II, 109; I, 5, 13). Inzwischen ist doch schon die Rede vom «Atheismus im Christentum». Aber die Frage der theologischen Begründung eines sozialistischen Engagements ist im Zusammenhang mit der Absicht dieser beiden Bände gerade kein Grund zur Spaltung, sondern es gilt: «Die Verschiedenheit der Begründungen wird die Zusammenarbeit — der Christen, der Atheisten, der Anhänger verschiedener Religionen und Weltanschauungen — nicht mehr hindern dürfen, wie sie es lange Zeit getan hat. Jeder wird sich vielmehr der Festigkeit freuen sollen, die der andere aus seiner anderen Begründung erhält, wenn er
nur durch sie zu einem zuverlässigen Verbündeten wird» (II, 109).