Dorothee Sölle


Die Hamburger Theologin Dorothee Sölle ist überraschend am Sonntag, 27.04.03, im Alter von 73 Jahren im baden-württembergischen Göppingen an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben.


Reden, Artikel, Texte
Dorothee-Sölle-Haus Hamburg
ZU PROTOKOLL – ZU GAST: DR. DOROTHEE SÖLLE
Mystik und Widerstand mit Leseprobe von Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky
Mystik und Widerstand – Zur Erinnerung an Dorothee Sölle
Mystik und Widerstand – zur Erinnerung an Dorothee Sölle
MYSTIK RELIGION DER ZUKUNFT?
Mystik und Widerstand Über die Theo-Poesie von Dorothee Sölle
ÜBER DOROTHEE SÖLLES „MYSTIK UND WIDERSTAND“
DOROTHEE SÖLLE – GROSSE THEOLOGIE FÜR KLEINE LEUTE
Dorothee Sölle – Gott hat zu wenig Freunde auf der Welt (Gespräch)
Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche Köln
Mit Jesus auf die Barrikaden

„Gerechtigkeit ist der Weg zu Gott, den wir finden können. Sie ist der Wille Gottes.
Ihretwegen spricht die Bibel so unaufhörlich von den Armen und meint, dass der Reichtum, den wir zwischen uns und den Armen aufhäufen, uns auch Gott verstellt und den Weg zu Gott verbaut.”
Dorothee Sölle in: Junge Kirche. Mai 1991

Zum Andenken an Dorothee Sölle – Vortrag in der Antoniterkirche Köln 2009
„Ich denke, daß Theologie zwar Anteile der Wissenschaft braucht, aber eigentlich
näher an Praxis, Poesie und Kunst ist als an der Wissenschaft.
Und sie vermied die wissenschaftliche Sprache, die mitunter zu Schlagworten erstarrten Begriffe der Universitätstheologie. Ich suchte eine andere Art des Scheibens als die wissenschaftliche. Ich wollte meine Bücher nicht mit unnötig vielen Fußnoten belasten. Ich wollte nicht mein Wissen dokumentieren, sondern meinen Denkprozess“ – schreibt sie. So wurde Beten für sie fast zu einem Synonym für Dichten. Ich darf wieder zitieren: „Wenn die Menschen mit der größten Wahrhaftigkeit deren sie fähig sind das zu sagen versuchen, was sie wirklich angeht, dann beten sie und sind zugleich Dichter.“

  

ILSEGRET FINK Dorothee Sölle (1929 bis 2003)
Dorothee Sölle: Moses, Jesus u. Marx – Utopisten auf der Suche nach Gerechtigkeit
Menschenrechte und die Bibel
Kommentar aus Jüngels Sicht bezogen auf Ragaz und Sölle
Religiöser Sozialismus nach Ragaz

Politische Theologie nach Dorothee Sölle
-Theologie sei bei ihrer Sache, wenn sie
o die reale Existenz des Christen mit einbeziehe,
o sich um das Leiden in der Gegenwart kümmere und
o nicht in akademischem Abstand die Rechtfertigungslehre perfektioniere
(wie z.B. Jüngel).
-Konkrete Folgerungen
o Kirche müsse über Politik reden, Sensibilität für die Leidenden entwickeln
und entsprechend handeln, sich also z.B.
 an Diskussionen über Krieg (z.B. Vietnam) beteiligen,
 für das Asylrecht von Menschen einsetzen, die im Ausland
in „Konzentrationslagern“ umkämen (Chile),
 bei einem Mieterstreik engagieren und weniger Predigten vorbereiten.
o Daher sei ein bloßes, distanziertes Referieren über politisch-theologische
Sachverhalte ohne Sensibilität für die Leidenden das Schlimmste.
-Begründung
o Paulus möge Distanz zur Welt fordern,
o Jesus hingegen empfinde Schmerz in der Welt.
– Zugeständnis und Konklusion
o Unverzichtbar sei, dass der Mensch vor allem Handeln von Gott geliebt sei.
o Für unbiblisch jedoch, mindestens vom AT her, hält sie die Ansicht, dass der Mensch ein Individuum sei, unabhängig von der Gemeinschaft.
Gott liebe den Menschen „zwar vor allem Handeln, aber doch nicht
außerhalb“ seiner „Realität“.

Dorothee Sölle ist mal gefragt worden: Ja, wenn ich gefragt werde, sind Sie eigentlich
Sozialist, dann sag ich: Ja natürlich, was denn sonst.
Und das war nicht allen Menschen
so recht.

Anstatt Gott ist tot, sollte man vielleicht sagen: Gott ist rot.

Dorothee Sölle vertrat die Auffassung, daß zwischen christlicher Lebensführung, politischem Engagement und Theologie nicht zu trennen sei. Zitat: „Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein.“

Kirche und Staat sind vielleicht trennbar, doch der Geist des Glaubens
und der Politik nicht.

Denn er, der bei Gott war, hielt es nicht für sein Privateigentum, bei Gott zu sein …

Dorothee Sölle – Prophetin unserer Tage
Frei werden wir erst, wenn wir uns mit dem Leben verbünden gegen die Todesproduktion und die permanente Tötungsvorbereitung. Frei werden wir weder durch Rückzug ins
Private, ins „Ohne mich“, noch durch Anpassung an die Gesellschaft, in der Generäle
und Millionäre besonders hochgeachtet werden. Frei werden wir, wenn wir aktiv,
bewußt und militant für den Frieden arbeiten lernen.
– Dorothee Sölle, Im Hause des Menschenfressers, Rowohlt

Unsere Aufgabe als Nachfolgende Jesu ist, gegen Unrecht unüberhörbar Stellung nehmen, als Korrektiv. Ökumenisch. Empört, zornig und laut. Bekennende Kirche zeichnet sich
dadurch aus, indem sie nicht schweigt wo Unrecht geschieht. Rechtssicherheit wird Stück für Stück abgebaut. Hilferufende Menschen werden wieder verfolgt. Lebensretter kriminalisiert. Das Ertrinkenlassen von Menschen, billig mit offenen Augen politisch gewollt.
Menschen werden öffentlich gejagt und staatliche Instanzen stellen sich schützend vor die Jäger. Staatliche Überwachungen machen kein Halt vor der Privatsphäre. Der Umbau von einer Verteidigungsarmee zu einer Interventionsarmee geht hemmungslos ungebremst voran. In was für einem Land leben wir, in dem das wieder möglich ist.
Was würde Dorothee Sölle zu dieser äußerst negativen Entwicklung sagen,
die Deutschland wieder genommen hat? Eines ist sicher, sie schweigt
mit dem was sie uns hinterlassen hat nicht.

Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt;
einem Land mit der blutigsten, nach Gas stinkenden Geschichte, die einige von uns Deutschen noch nicht vergessen konnten … Reich ist die Welt, in der ich lebe, vor allem an Tod und besseren Möglichkeiten zu töten..
– Dorothee Sölle, 1983 in Vancouver, vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen

Christiane Geisthardt: Die Lebenswelt der ‚neuen christlichen Kultur‘
Sölle bekennt: „Ich werde oft ungeduldig, wenn mich Gläubige fragen: ‚Bist du Marxistin?‘ Das Beste, was mir dazu einfällt, ist eine Gegenfrage: ‚Putzt du dir die Zähne? Ich meine, nachdem man die Zahnbürste erfunden hat?‘ – Wie kann man Amos und Jesaja lesen und nicht Marx und Engels? Das wäre absolut undankbar gegenüber einem Gott, der uns Propheten mit der Botschaft sendet, daß Jahve kennen, Gerechtigkeit üben heißt.“
Nach D. Sölle ist aus dem christlich-marxistischen Dialog ein Bündnis geworden. Die ’neue christliche Kultur‘ ist eine „Kultur sozialistischer Christen“. Als Devise dieser Überzeugung gilt: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Kapitalismus.“ Die Glaubensinhalte dieses den Kirchen, den Konfessionen und der Theologie distanziert gegenüberstehenden Christentums wird im ersten Kapitel exemplarisch als ‚Christsein nach Dorothee Sölle‘ dokumentiert. Da die ‚bedingungslose Liebe zum Menschen‘ das Glaubenszentrum bildet, verlieren religiöse Gottesvorstellungen und theologische Argumentationen an Bedeutung. Die Liebe zum Menschen wird nicht an religiöse Bedingungen geknüpft.
Für D. Sölle sind religiöse Bindungen historisch und biographisch zu erklärende persönliche Überzeugungen, die in der Privatsphäre beheimatet sind und in ihr verbleiben sollen.
Im Mittelpunkt steht das menschliche Beispiel Jesu. Der biblische Hoheitstitel ‚Christus‘ wird beibehalten, um die herausragende Menschlichkeit Jesu zu verdeutlichen.

Diese Menschlichkeit gilt es, unabhängig von religiösen Traditionen, zu leben.

Die entsprechende Formel lautet: „Theismus und Atheismus sind vom Glauben
gleich weit entfernt.“

Politische Theologie
Der politische Jesus
Das soziale Veränderungsbewußtsein kann und braucht sich nicht biblisch zu rechtfertigen. Es ist sinnleer, zu fragen, ob Jesus unmittelbar für die Veränderung der sozialen Bedingungen eingetreten sei. Man muß hier von dem reformatorischen Grundsatz ausgehen, den Melanchthon formuliert hat, daß es nämlich darauf ankomme, Christi Wohltaten an uns, nicht aber seine Naturen zu erkennen. . »Id est Christum cognoscere ejus beneficia
cognoscere, non ejus naturas.«
Auf die gegenwärtige theologische Diskussion übertragen müßte dieser Grundsatz lauten: Es geht nicht darum, in einem biblizistischen Sinne die
Materialien des politischen Verhaltens Jesu zu erheben und an ihnen zu messen, ob er ein Revolutionär war oder nicht. Es kommt nicht darauf an, sein materiales Verhalten zu beschreiben und es zu imitieren, sondern darauf, die Tendenz seines Verhaltens zu erkennen und seine Ziele in unserer Welt neu zu realisieren. Es ist daher nicht sinnvoll, zu fragen:
War er ein Revolutionär? Wie stand er zur Gewalt, wie zum Grundbesitz? Sondern wir müssen versuchen, von uns aus als seine Freunde, die die Tendenz seiner Entscheldung bejahen, zu sagen, wie wir heute zu Revolution, Grundbesitz oder Gewalt stehen. Diese seine Funktion für uns (seine beneficia) ist wichtiger als die dem Historiker erkennbaren Worte und Taten, die nur zur Nachahmung, nicht zur Nachfolge führen können. Jesus von Nazareth hat die strukturellen Bedingungen, unter denen Zöllner Zöllner und Huren Huren wurden, nicht analysiert oder kritisiert. Er nahm dle Menschen an, ohne danach zu fragen, wer sie dazu gebracht habe, Zöllner oder Hure zu werden. Er konnte diese Frage nicht stellen, weil – marxistisch gesprochen – die Produktionskräfte nicht den Entwicklungsstand hatten, innerhalb dessen soziale Umstrukturierungen erst technisch möglich wurden. Die Fragestellung nach der Veränderbarkeit in diesem Sinne ist daher, wenn sie an das Neue Testament als ein antikes Dokument gestellt wird, ahistorisch und darin vormarxistisch, gleichgültig ob sie von Joachim Kahl als Kritik an Jesus oder, affirmativ zum Bestehenden, von biblizistischen Theologen als Kritik an politischer Theologie gestellt wird. Die Basis für
Veränderung in dem umfassenden Sinn, den wir heute denken, war damals nicht gegeben.
Ist sie aber gegeben, so können wir nicht mehr hinter die Fragen, die damit auftauchen,
zurück; wir können es uns nicht erlauben, davon abzusehen, warum Chemiker in der
Rüstungsindustrie arbeiten oder junge Männer den Kriegsdienst dem Friedensdienst
vorziehen.

Kuba: Sozialismus und Christentum
Warum brauchte Fidel 27 Jahre, um ein besseres Verständnis des Christentums zu gewinnen? Die Antwort liegt nicht im taktischen Kalkül, sondern in der historischen Realität.
Solange im wesentlichen das unterdrückerische Potential des Christentums, die Instrumentalisierung des Glaubens zu einem Mittel der Herrschaft der Reichen über die Besitzlosen sichtbar war in einem durch und durch vor-konziliaren, ja feudalistischem Katholizismus, mußte die Revolution gegen diese Religion der Unterdrücker kämpfen. Heute, da die Theologie der Befreiung und ihre Option für die Armen auch vom Vatikan nicht mehr zurückgedreht werden kann, ist das Christentum „seinen Wurzeln wiederbegegnet“ wie Fidel sagt. „Christus hat die Brote und die Fische vermehrt, um dem Volk zu essen zu geben.
Das ist genau das, was wir mit der Revolution und dem Sozialismus wollen: die Fische und die Brote vermehren, um das Volk zu ernähren; Schulen, Lehrer, Krankenhäuser und Ärzte vervielfachen.“

Jesus und die Friedensfrage bei Dorothee Soelle
1. Dorothee Sölle, eine fromme Widerstandsfrau
Mit Recht wird Sölle als eine der wichtigsten Befreiungstheologen der ersten Welt
geschätzt, als Theologin/Theoretikerin, die es geschafft hat, die Dependenzverhältnisse
zwischen Arm und Reich theolog. zu begründen, als Kritikerin des Militarismus, der ihrer Auffassung nach ein Diebstahl an den Armen ist. Ihre wichtigen Werke aus dieser Phase sind: Im Haus des Menschenfressers (1981), Fürchtet euch nicht, der Widerstand wächst (…), Wählt das Leben (1980) Aufrüstung tötet auch ohne Krieg ( 1982). Bekannt u. bestraft wurde sie durch ihre Rede an der IV. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver im Jahre 1983. In ihrer Rede „Leben in seiner Fülle“ trat sie klar und unmissverständlich direkt gegen die ausbeuterischen Strukturen in der Welt auf. Je reifer ihr Wirken wurde, um so mehr beschäftigt sie sich mit dem Thema der Gewaltfreiheit und des Widerstandes gegen jede Form der strukturellen Gewalt. Die wichtigen Werke aus diesem
Themenbereich sind: Das Fenster der Verwundbarkeit (1987), Die Gewalt (1994)
und ihr Hauptwerk Mystik und Widerstand (1997)

Es ist mir wichtig zu betonen, dass Sölle genauso wie sie bis zuletzt eine
Widerstandsfrau, eine Kämpferin war, auch eine fromme Frau blieb. Das wird zu Unrecht übersehen, obwohl Sölle ihre Frömmigkeit nie versteckt hat. In zahlreichen theologischen Texten und in ihren Gedichten betont sie, wie wichtig für sie das Gebet, der Glaube,
die Beziehung zu Gott sind. So schrieb sie Im Haus des Menschenfressers:

Das Evangelium hat mich weinen gelehrt,
Es hat mir Angst gemacht vor den Angstlosen
Es hat mich angesprochen unter den Sprachlosen
Es hat mich durstig gemacht unter den Gelangweilten. (Sölle, 1981: 87)

Aus der Frömmigkeit heraus verstand Dorothee Sölle das politische Nachtgebet als Ereignis, bei dem das Gebet ein unentbehrlicher Teil ist. Ihre Freunde/Familie erzählen von ihr, dass sie immer gern und innig Kirchenlieder sang, und im Brief an ihre Kinder schrieb sie: Vergisst das Beste nicht (Sölle, 1995:308ff) und meinte dabei die Transzendenz als das
Wesentliche in jedem Leben. Schließlich ist ihre Frömmigkeit von ihrer christl. fundierten Hoffnungsfähigkeit untrennbar. Im Haus des Menschenfressers skizziert Sölle ihre Hoffnungswurzeln, die Kraftquelle ihres Friedensdienstes/commitement auf folgende Weise:

„Ich habe keine politische Analyse des Widerstands, die zu Hoffnungen berechtigt.
Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen, für eine Zeit. Aber aus der Tradition, auf die sich die in El Salvador Kämpfenden und Leidenden berufen, weiss ich: Der Terror hat nicht das letzte Wort.“
(Sölle, 1981:107)

Es ist wahr, Sölle suchte eine neue Sprache, in der man heute über Gott reden und beten kann. Sie meinte, es sei unentbehrlich, die Theologie in der Verwandtschaft mit der Poesie und weniger als Wissenschaft zu betrachten. In jedem Fall spürt der/die Leser in ihren Texten ihre unaufgebrochene Leidenschaft nach Gott und eine Präsenz des Geistes, der sie zur Gerechtigkeit treibt, zum Mut der Provokation. Sölle ist im Dienst, sie fühlt sich verpflichtet, aus einer tiefen Verantwortung vor Gott die Wahrheit trotz allem nicht zu verschweigen. Das unstillbare Feuer, das die Politisierung des Gewissens fördert und die Passivisierung des Glaubens anprangert, ist der Kontext, in dem Sölle Gott denkt und lebt.
Auf die Bemerkung: „Warum sagen sie nichts über gott frau sölle“, schreibt sie:

Es ist doch die liebe zu gott
sie macht mir die zunge trocken
wenn sie im fernsehen lügen lassen
um ungestörter zu morden
Es ist doch die freude an gott
sie macht mir die augen nass
an einer kleinen folge von tönen
sing ich mit ohne wort wie kinder

Es ist doch die rose in gott
sie hat schon zuvor geblüht
ich sah sie auf sörens grab in kopenhagen
ich werde sie sehen
eine rose im winter
(Sölle, 2007: 151)

Ihre Frömmigkeit ist um so wichtiger für uns heute als Sölles Beispiel zeigt, dass es nicht notwendig ist, zugleich fromm und blind gehorsam zu sein. Die Frömmigkeit ist bei Sölle wohl in einer kontinuierlichen subversiven Protesthaltung gelebt worden, in der die
zentrale Gestalt als Kraftquelle und Phantasievorbild eben Jesus von Nazareth ist.

Friede als schalom oder als eirene
Schalom ist der Friede, der das Ergebnis der Gerechtigkeit ist. Sölle schreibt:
“Als Maßstab dient nach Aussage der Propheten das Recht der Rechtlosen, etwa der
Witwen und Waisen, die keinen männlichen Fürsprecher haben.“ (Sölle, 2009:200).
Schalom verbindet den inneren und den gesellschaftlichen Frieden: schalom wird durch die Gerechtigkeit und die Gemeinschaft und nicht durch Waffen gesichert. Dem schalom entgegen steht der Friede als eirene. Den griechischen Begriff gebraucht Sölle, um die
Auffassung vom negativen Frieden zu bezeichnen. Eirene definiert sich im Bezug auf den Krieg. Eirene kennzeichnen gegenseitige Drohungen, Bedrohung, Gewalt, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unfreiheit (ibd.:198) Wie für den Friedensbegriff schalom die Gerechtigkeit erkennbare Eigenschaft ist, so zeigt sich der Friede eirene nach Sölle in der Verkoppelung Friede und oft militärischer Sicherheit. Sie schrieb schon Anfang der 80er Jahre in  Aufrüstung tötet auch ohne Krieg: „Die Sicherheit, die die Aufrüster uns verkaufen,
ist eben todsicher.“
(Sölle, 1982a:11).

Pax Romana oder Pax Christi
Sölle findet, dass im Neuen Testament ein klarer Gegensatz zwischen dem Pax Christi und dem Pax Romana zu erkennen ist. Während Pax Christi dem biblischen schalom entspricht und durch gerechte Beziehungen und eine neue Lebensweise gesichert wird, wird der Friede im Sinne von Pax Romana mit Gewalt und Repression verbunden. Die erste christliche Gemeinde war im Widerstand zu Pax Romana, behauptet Sölle. Sie beruft sich auf die Texte von Paulus, z.B. den 1. Brief an die Thessalonicher (1 Sol 5,2 ff), wo Paulus die Ideologie von „Friede und Sicherheit“ als eine Ideologie von Pax Romana durchschaut, die immer in neuen kriegerischen/gewaltigen Auseinandersetzungen endet. Paulus erinnert an den Propheten Jeremia, der schrieb: „Und sie heilen den Schaden meines Volkes leichthin,
indem sie sagen „Friede, Friede“ – doch wo ist Friede? In Schande stehen sie da, denn sie
haben Gräuel verübt. Doch Scham kennen sie nicht, wissen nichts von Beschämung“
(Jeremia, 6,14).

„Eines der Grundprobleme eines zerstörten, geistlos gewordenen Christentums ist, dass Kirchen immer wieder versucht haben, Pax Christi und Pax Romana zu vereinen, als könnten sie beide zusammen genießen. Viele Christen meinen auch heute noch, man könne so leben, dass man im Herzen den Frieden Christi trägt, der uns als Einzelne tröstet, und sich nach außen auf die Pax Romana und ihre durch Gewalt erzwungene Ordnung verlässt.“ (Sölle: 2009:205)

 

2. Wer ist Jesus Christus für uns heute?
Wie sollen wir uns verändern, wenn wir in der Nachfolge Jesu schreiten? Im Rundfunkvortrag für den Südwestfunk Baden-Baden zum Karfreitag 1981 beschreibt Sölle wichtige
Eigenschaften von Jesu Verhalten, denen wir nachfolgen sollen (Sölle, 1981:100ff):

• Jesus hat sein Leben aus Liebe zu den Armen hingegeben: „Hätte er nur und vor allem die Reichen geliebt, wie wir gern annehmen aus leicht durchschaubaren Gründen, so hätte er nicht sterben brauchen.“ (Sölle, 1981:100).
• Seine Liebe führte notwendig auch zum Leiden, denn „Lieben heisst sein Gesicht nicht verstecken, wie es in einem politischen Lied aus Chile heisst: Jesus hat sein Gesicht immer weniger versteckt.“ (Sölle, 1981:101).
• „Jesus hat ohne Schutz gelebt“, behauptet weiter Sölle. Dabei erwähnt sie den Schutz der Familie, des Eigentums oder der überlegenen Redekunst. Typischerweise für Sölle wird diese Schutzlosigkeit in den Kontext von militaristischen Schutzansprüchen gestellt: „Jesus hat ausdrücklich auf den Schutz durch Waffen verzichtet“ (Sölle, 1981:101).
• Durch seine Schutzlosigkeit und Gewaltverzicht offenbart Jesus den Gott, der sich von den anderen Gottesbildern unterscheidet. Es ist ein Gott, der eben NICHT die Stärke hochpreist und die Gewalt befürwortet, sondern „Gott will sich selbst nicht schützen und unnahbar halten. Gott hat auf Gewalt und Eingreifen in der Art von Superherren verzichtet. Gott übt keine Gewalt. Gott hat abgerüstet in Jesus Christus.“ (Sölle, 1981:103).
• Sölle betont, dass dieser schutzlose Gott „in Christus einseitig abrüstete, (…) Er wartete nicht auf die anderen, die doch erst mal die Waffen weglegen sollen. Er fing an in Christus unilateral, auf der eigenen Seite auf Gewaltdrohung zu verzichten.“ (Sölle, 1981:103).

4. Jesus fromm und radikal:
der Friede im Zusammenspiel von Kontemplation und Aktion

Die Verknüpfung zwischen Kontemplation und Aktion bzw. zwischen Mystik und des Widerstands ist eine der grundlegenden Einsichten von Sölles theologischem Wirken insgesamt. Sie wird in ihrem Hautwerk Mystik und Widerstand gründlich bearbeitet und dargelegt.
Die Grundbehauptung in diesem Werk lautet: Mystik ist Widerstand denn „für das mystische Bewusstsein ist es notwendig, dass alles Innere nach außen kommt und sichtbar wird. Der Traum will erzählt werden, das „innere Licht“ will scheinen“ (Sölle, 1997:30).
Puhdys „Vorn ist das Licht“ ( Ostrock )

Ich dein baum
Nicht du sollst meine probleme lösen
sondern ich deine gott der asylanten
nicht du sollst die hungrigen satt machen
sondern ich soll deine kinder behüten
vor dem terror der banken und militärs
nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden

Du hast mich geträumt gott
wie ich den aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt

Hör nicht auf mich zu träumen gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein baum bin
gepflanzt an den wasserbächen
des lebens.
(Dorothee Sölle)

Mystik und Widerstand – Dorothee Sölle
Mystik und Widerstand Ein Film über Dorothee Sölle (1929-2003)
Der in den 1980er Jahren im Rahmen der westlichen Verteidigungsstrategie geprägte
militärische Begriff vom „Fenster der Verwundbarkeit“ bedeutete für Doroth. Sölle nicht, waffenstarrend hinter diesem Fenster auf den Feind zu lauern, sondern dieses „Fenster“
als ein Fenster zum Himmel zu begreifen und es weit zu öffnen. „Dass das Fenster der
Verwundbarkeit offen bleiben muss, wenn wir Menschen bleiben oder es werden wollen, scheint unbekannt zu sein. Das Fenster der Verwundbarkeit ist ein Fenster zum Himmel. (…) Tranzendenz ist deswegen gefährlich, weil sie verwundbar macht. Darum muss der Staat, der die Unverwundbarkeit als Sicherheit zum Idol erhebt, alle wahre Transzendenz zu verhindern suchen.“

Als Religionslehrerin in Köln ringt sie um das Verständnis eines zeitgemäßen Christentums. Es fällt ihr schwer, in den starren Formen der kirchlichen Rituale und Dogmen das zu erkennen, was sie unter dem Christentum zu verstehen glaubt. Sie fragt nach den Symbolwelten und verknüpft diese Frage mit der Auffassung, ein zeitgemäßes Christentum mit den aktuellen politischen Fragen zu verbinden: ″Vietnam ist Golgatha“. Für die Aufbruchgesellschaft der Nach-Adenauer-Ära eine Provokation. Ihr aber geht es nicht um Provokation,
sondern um Wahrheit u. Aufrichtigkeit des Denkens.
In der Kölner Antoniterkirche initiiert sie die „politischen Nachtgebete“: Eine Symbiose von Meditation, politischer Information und zeitgemäßer Spiritualität. Mit ihrem Engagement, sich neuen Fragen zuzuwenden,
verändert sie den Kirchentag der Protestanten, was Margot Kässmann sagen lässt, sie
habe“ den Schlüssel zur Zukunft des Kirchentages gefunden.“ Gleichwohl, nie erhält
sie einen Lehrstuhl für Theologie an einer deutschen Universität.

Theologie vs. Theopoesie. die Metaphern sind ihr wichtiger als die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Christentum. Für einige Wochen geht sie nach Monterosso
in Italien, um die Deutsche Mystik zu studieren. Wasser wird für sie ein Begriff für das
„Loslassen“. Keineswegs hätten die Mystiker sich von der Welt abgeschlossen, so der Sölle-Biograph Ralph Ludwig: Erst die Versenkung ermögliche eine neue Zuwendung zur Welt.

Sie entdeckt die Stadt New-York als „Hauptstadt der Kultur.“, Vorurteile gegenüber den
Vereinigten Staaten werden widerlegt, sie verfügt auch über die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen; und sie entdeckt immer wieder die Mystik als Kraftquelle.

Vorwürfe, sie sähe nicht die Menschenrechtsverletzungen im Osten, weist sie zurück:
„Wir müssen UNS kritisieren, UNS und UNSERE Bündnispartner.“

Mystik und Widerstand. Ihre Weggefährtinnen und -gefährten beschreiben einen Menschen, der zutiefst durchdrungen war von der Kraft der Mythen, von der Fähigkeit, die uns umgebenden Lebenswirklichkeiten mit einer Spiritualität zu verbinden, die sich – mit ganzem Einsatz für die Geschundenen und Entrechteten – dieser Welt der Macht und den Mächtigen entgegenstellt. Die Poesie einer Mechthild von Magdeburg, die Konsequenz eines Thomas Müntzer sind ihr Zugang zur Welt, nicht der Aberglaube und die
Rituale des traditionellen Christentums. Die Mystiker sieht sie als Lehrmeister des
Widerstands und des Strebens.

Sölle fragt nach dem Tod, dem Umgang mit dem Sterben. „Der Tod gehört zum Leben dazu“. Unser Verständnis von Schöpfung, so ihre Auffassung, sei Geschäftigkeit, richte sich im Wesentlichen auf die Maschinenwelt. Es gehe aber um ein bewussteres Erleben des Rhythmus des Lebens. Um den Rhythmus der Jahreszeiten, den Wechsel von Tag und Nacht,
den von Jugend und Alter. Sie weiß um die Notwendigkeit einer neuen Spiritualität,
die die Rythmen bedenkt.

»Die Religion des dritten Jahrtausends wird mystisch sein oder absterben«, lautet einer
ihrer berühmten Sätze. Als zeitgemäße Spiritualität konnte sie sich nur eine individuelle
Gotteserfahrung
jenseits von blind übernommenen Traditionen vorstellen. Die bildgewaltige Sprache der Mystiker diente ihr dafür als Vorbild, etwa Mechthild von Magdeburg oder
Thomas Müntzer, die ‒ wie sie – ebenfalls aufsässige Geister waren. Mystik und Widerstand ‒ so Sölles Entdeckung ‒ müssen keine Gegensätze sein: gerade die Erfahrung des »göttlichen Funkens« kann ein Impuls für soziales und politisches Engagement werden.

Mystik und Widerstand mit Leseprobe von Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky
Mystik und Widerstand
Ich finde einen kleinen Text von Dorothee Sölle, den sie wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben hat, eine kurze Auslegung eines Verses aus dem Psalm 33: »Unser Herz freut sich des Herren und wir trauen auf seinen heiligen Namen.« Sie schreibt dazu, schon mit müder Hand: »Die Freude an Gott ist vielleicht das Allerwichtigste, was die Psalmen uns lehren können. Das Buch der Psalmen ist ja das Liederbuch, das Gesangbuch des Alten Bundes.
In ihm stehen verzweifelte Lieder, Klagerufe, Bittgesänge, aber eben auch und vielleicht an erster Stelle die Freude an Gott, an seiner Schöpfung, an Sonne, Mond und Sternen, die auf- und untergehen, an Wäldern und Feldern, an Narzissen und Tulipan. ›Oh, wie schön ist Deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet, wenn Dein Glanz herniederfällt und die Luft mit Schimmer malet‹ ist ein Lied, das wir früher oft gesungen haben. Es ist eine Art von Glück, diese Freude an– oder sollte man nicht besser sagen ›in‹? – Gott. Die Psalmen sind in einer Elendswelt entstanden, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Abhängigkeit vom Wetter, vom fehlenden Wasser, von Krankheiten, von Schmerzen, Ängsten, Nöten, denen die Menschen schutzlos ausgeliefert waren. Wieso spielt in dieser Welt der Ängste vor wilden Tieren und habgierigen Feinden, vor frühem Tod und sterbenden Kindern das Lob Gottes eine solche Rolle? Warum ›freut sich unser Herz‹ und woher kommt dieses merkwürdige Vertrauen, dass es auch morgen etwas zum Freuen gibt? In einer jüdischen Psalmenauslegung heißt es: Die Welt wird erst sichtbar, wo sie besungen wird. Und wir werden erst glücklich, wenn wir mitsingen.«

Sie lernte früh – wenn man so will – Grundeigenschaften der Mystik, nämlich das Staunen, das Loben und das Danken. In ihrem letzten Vortrag am Vorabend ihres Todes sprach sie über die Mystik und begann mit dem Staunen: »Ich denke, dass jede Entdeckung der Welt uns in einen Jubel stürzt, ein radikales Staunen, das die Schleier der Trivialität zerreißt. Nichts ist selbstverständlich und am allerwenigsten die Schönheit. Es gibt keinen mystischen Weg, der zur Einigung führen kann, wenn nicht dieses Staunen da ist. Staunen heißt, wie Gott nach dem sechsten Tag die Welt wahrnehmen: ›Und siehe, es war alles sehr gut!‹ Das ist ein Anfang. Die Seele braucht das Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen, Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich machen, um uns lagern … Staunen oder Verwunderung ist eine Art, Gott zu loben – übrigens auch dann, wenn sein Name nicht genannt wird.«

Caroline Sölle, Ärztin aus Bolivien und Dorothees Tochter, schrieb: »Die Armen werden
selig gesprochen, weil sie so bitter unselig sind. Armut macht unglaubl. hässlich, äußerlich und innerlich. Wenn ich meine Sprechstunde halte, bin ich immer wieder erstaunt über die Hässlichkeit der Armut. Die Armen sehen den Müll nicht, in dem sie leben, sie sehen darin nur, ob man da noch etwas finden könnte zum Essen oder zum Wiederverkaufen.
Sie sehen die Schönheit der Natur nicht, sond. denken beim Sonnenuntergang nur daran, ob sie genug Decken zum Zudecken in der Nacht haben. Sie lieben einander herzlich wenig, der Enkel schlägt die Großmutter, die ihm nicht genug Geld für Drogen gibt, nachdem der Vater sich zu Tode gesoffen hat und die Mutter die Familie verließ. Die Frau, die
ihre sechs Kinder und ihren rheumatisch verkrüppelten Mann als Wäscherin durchbringt,
die zu acht in einem winzigen Zimmerchen hausen, aus dem die Vermieterin sie wieder
hinauswirft, diese Frau hat kein Lächeln übrig.« Die Schönheit der Welt wahrnehmen zu
können oder sie zu übersehen, ist nicht unabhängig vom ökonomischen Schicksal der
Menschen. Dorothee ist trotz des Krieges in einer behüteten Welt aufgewachsen. Sie hatte die Möglichkeit zu lesen, zu wandern und Musik zu hören. Sie hatte Zeit für die Schönheit und Zeit, sich selber wahrzunehmen. Sie lebte nicht wie die meisten Menschen in einer Welt ständiger Nötigungen; in einer Welt der Armut, in der Menschen keine Zeit für zwecklose Schönheiten haben; in einer Welt »sunder warumbe«, das Wort von Meister Eckhart,
das sie oft zitierte. Die Fähigkeit zu loben und zu danken hängt auch davon ab, ob einem die Welt, in der man lebt, etwas zu loben und zu danken gibt. Die Fähigkeit zu glauben
setzt voraus, dass das
Leben sich als glaubwürdig erweist. In einem Gedicht aus Cuba
heißen zwei Zeilen: »Gestillt werden kann der Hunger nach Brot, grenzenlos ist der Hunger nach Schönheit.« Leider kann die Armut auch den Hunger nach Schönheit aus den Herzen der Menschen reißen.


Gotteshunger (Archiv)
Kirchliche Bedenken
Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche

Das politische Nachtgebet war das Experiment einer Gruppe, die den Satz, daß Glaube
und Politik untrennbar sind, in die Praxis umsetzen wollte.

„Ich hatte Hunger: Ihr habt die Ernte meines Landes chemisch vernichtet. Ich war nackt:
Ihr habt mich mit Napalm übergossen.“ „Wo kreuzigen wir Christus“ heute?“

„Nicht mehr kann Gott als Gewißheit des Herzens (…) vorausgesetzt werden… Wir fangen vielmehr am gottlosen Nullpunkt, den die entwickelte bürgerliche Gesellschaft darstellt, an und nehmen wahr, daß Einer, der uns in vielen Brüdern und Schwestern begegnet, anders lebte als wir: Jesus, der mir verständliche und doch entfernte Bruder (…). Wenn es für mich eine theologisch-politische Kontinuität gibt, dann liegt sie in diesem Anfang bei dem Machtlosen, dem Leidenden und dem Hiesigen. … Nicht: Jesus (O.T. er) hat’s geschafft, darum auch wir, sondern: er wird gekreuzigt, jeden Tag. Mit ihm sein, sein Bild im Herzen tragen, ihm folgen heißt, sich eine Lebensperspektive zu eigen zu machen, die im wesentlichen, unüberbrückbaren Konflikt zur Gesellschaft, in der wir leben, steht.“ (2)

Einen entscheidenden Anstoß dazu gibt der Vietnamkrieg. Der »Ökumenische Arbeitskreis Köln«, zu dem neben Dorothee Sölle auch Heinrich Böll und der Benediktinerpater Fulbert Steffensky gehören, will auf dem Katholikentag in Essen 1968 einen »politischen Gottesdienst« feiern. Aus Sorge um Provokationen erst für 23 Uhr angekündigt wird dieser Gottesdienst so zum »Politischen Nachtgebet«, mit dem sich dann katholische wie evangelische Kirchenleitungen schwer tun. Aber zum ersten der monatlichen »Politischen Nachtgebete« kommen über 1.000 Menschen in die evangel. Antoniterkirche in Köln. Besonderer Stein
des Anstoßes war ein Glaubensbekenntnis von Dorothee Sölle:

„Ich glaube an Gott
der die Welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein Ding das immer so bleiben muss
der nicht nach ewigen Gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen Ordnungen
von Armen und Reichen
Sachverständigen und Uninformierten
Herrschenden und Ausgelieferten
Ich glaube an Gott
der den Widerspruch des Lebendigen will
und die Veränderung aller Zustände
durch unsere Arbeit
durch unsere Politik
Ich glaube an Jesus Christus der recht hatte, als er
„ein einzelner, der nichts machen kann“
genau wie wir
an der Veränderung aller Zustände arbeitete
und darüber zugrunde ging
an ihm messend erkenne ich
wie unsere Intelligenz verkrüppelt
unsere Phantasie erstickt
unsere Anstrengung vertan ist
weil wir nicht leben wie er lebte
jeden Tag habe ich Angst
dass er umsonst gestorben ist
weil er in unseren Kirchen verscharrt ist
weil wir seine Revolution verraten haben
in Gehorsam und Angst vor den Behörden
Ich glaube an Jesus Christus
der aufersteht in unser Leben
dass wir frei werden
von Vorurteilen und Anmaßung
von Angst und Hass
und seine Revolution weitertreiben
auf sein Reich hin
Ich glaube an den Geist
der mit Jesus in die Welt gekommen ist
an die Gemeinschaft aller Völker
und unsere Verantwortung für das
was aus unserer Erde wird
ein Tal voll Jammer Hunger und Gewalt
oder die Stadt Gottes
Ich glaube an den gerechten Frieden der herstellbar ist
an die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens
für alle Menschen
an die Zukunft dieser Welt Gottes. Amen.“

Als ich zehn Jahre alt war, 1939, hatte Christus das Gesicht des alten jüdischen Geschäftsmannes bei uns an der Ecke, dem man bei der Gestapo die Zähne ausgeschlagen hatte.
Im vorigen Jahr hatte er die Gestalt eines kleinen Mädchens auf den Philippinen, das sich an den Sextourismus verkaufen mußte. Am heutigen Tag wird Jesus 40 000mal verhungern als ein Kind der Dritten Welt. Dorothee Sölle

45 Jahre alt ist sie, als sich in ihren Augen der Horizont weitet. Sie will die Entfremdung und Zerstückelung des Menschen überwinden, politischer Aktionismus ist ihr zu wenig.
Ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen birgt sie jetzt in dem großen Mantel christlich-spiritueller Tradition und bindet sie ein in das Buch »Die Hinreise«. Selbstironisch schreibt sie von Italien aus ihrer Freundin Luise Schottroff über diesen neuen Blick:
„Ich befinde mich auf mystischen Abwegen! Vielleicht habe ich zuviel von dem Zeug gelesen und mich an der ’suezze Gottes‘ berauscht, aber mir kommt der Materialismus im Marxismus im Augenblick so dumm, kleinkariert und zu falschen Konsequenzen führend vor (…) – und die ‚innere Welt‘ der Religion, des Mythos so verlockend (…). Ich sitze hier auf meiner Terrasse, vor mir das Meer, hinter mir die Weinberge, darüber die heute etwas wolkige
Sonne. …“
(4)

Mechthild von Magdeburg
„Ich möchte Mystik gerne demokratisieren und sie nicht für eine egalitäre Angelegenheit von Esoterikern halten, sondern als etwas, was wir alle sein können und immer wieder werden. Wir alle haben schon mal die Sonne im Meer untergehen sehen und vielleicht
gesagt oder gesummt, oh, wie schön ist Deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet. (…)

Ich glaube an diese Formen der Naturfrömmigkeit, das Überwältigtsein vom Himmel und den Sternen über mir, die Schönheit eines herunter fallenden Blattes. (…) Ich versenke mich. Ich verliebe mich, ich vergehe. Ich verschwinde in dem Anderen, und dieses Andere ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der Welt, der Schönheit und der Güte.“ (9)
Das sind mystische Erlebnisse. Doch auch die reflektierte Mystikerin verbindet Gottesliebe immer mit der unbedingten Suche nach dem Leben und seiner Wahrheit.
Sie unterscheidet nicht zw. mystischer und politischer Theologie. Denn Widerstand braucht einen Grund, braucht die Schärfe der Analyse wie die Schönheit einer Vision.
Niemals lässt sie den klaren, kritischen Verstand außen vor. Doch ihre Seele legt sie in ihre Gedichte, in ihre »Theopoesie«, in der sie zwischen Glaube und Zweifel Hoffnung aus der Bibel schöpft – gerade auch in ihren letzten Lebensjahren, in denen sie sich mit ihrer
Endlichkeit auseinandersetzt. Fromm und frech:

Gegen den Tod

Ich muss sterben

aber das ist auch alles
was ich für den tod tun werde
Alle anderen ansinnen

seine beamten zu respektieren
seine banken als menschenfreundlich
seine erfindungen als fortschritte der wissenschaft
zu feiern
werde ich ablehnen
All den anderen verführungen

zur milden depression
zur geölten beziehungslosigkeit
zum sicheren wissen
dass er ja sowieso siegt
will ich widerstehen
Sterben muß ich

aber das ist auch alles
was ich für den tod tu
Lachen werde ich gegen ihn

geschichten erzählen
wie man ihn überlistet hat
und wie die frauen ihn
aus dem land trieben
Singen werd ich

und ihm land abgewinnen
mit jedem ton
Aber das ist auch alles“

Noch in ihrem letzten Vortrag, kurz vor ihrem Tod, macht sie Mut zum Aufbruch:
„Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.“

Gott und das Leben, Erinnerung an eine Rede von Dorothee Sölle
Damals hielt die Theologin Dorothee Sölle eine viel beachtete Rede über das
„Leben in seiner Fülle“
. Da das Wort Leben in der aktuellen Überschrift erneut auftaucht,
ist es vielleicht interessant, hier noch einmal nachzulesen, was Dorothee Sölle über das
Leben in Beziehung auf Gott sagte. Das Wort „Leben“ kommt in ihrer Rede mehr als achtzigmal vor, seltener als Verb wie in der Frage: „Wer lebt es denn?“ (S. 11) Doch diese Frage ist sicherlich eine Leitfrage des Artikels. Das „Leben in seiner Fülle“ wird jedoch zumeist in Frage gestellt, entweder durch die Sinnlosigkeit der Leere oder des Elends. Das Leben muss jeweils in seinem gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden.

Nun frage ich: Inwiefern ist für Dorothee Sölle der „Gott des Lebens“ der Schlüssel ihres Verständnisses. Hier ist zuerst die Rede vom „Glauben an das Leben der Welt, das (ihr) in dem armen Mann aus Nazareth begegnet ist, der weder Reichtum noch Waffen besaß.
Dieser arme Mann stellt das Leben der Welt vor unsere Augen u. weist uns auf den Grund des Lebens hin, auf Gott. Christus ist die Exegese Gottes, die Auslegung, die uns verstehen macht, wer Gott ist (Johannes 1,18).“ (S. 11). Die Leere und Sinnlosigkeit des Lebens ist religiös gesprochen der Mangel der Präsenz Gottes, als Grund des Lebens, der sich aber
zugleich im gesellschaftlichen Verhalten niederschlägt.
Auf dieser Ebene argumentiert Dorothee Sölle in einem schlichten Dualismus: „Wir sind beteiligt an den Projekten der Ausplünderung oder der Fülle von Leben. Wir partizipieren entweder an der Sendung Christi, oder an dem, was der Dieb mit der Welt vorhat.“ (S. 13). Das Leben ohne Gott ist zugleich ein „Leben ohne Seele“, weil es „als selbsterarbeitet angesehen wird und nicht als Geschenk des Schöpfers“ (S. 13). Sieht man beide Formulierungen in einem
Zusammenhang, dann ist die Rede von Gott immer konkret, der Sinn eine konkrete Bedeutung und bewusste Praxis, die aber andererseits in einer Position des Empfanges wurzelt. Sein Leben in Gott begründet zu sehen, muss bedeuten, es eben nicht als erarbeitet oder verdient anzusehen. Der Sinn des Lebens ist zuerst Gabe und erst danach und
dadurch Anspruch und Aufgabe.
Dorothee Sölle verdeutlicht dies am Bild der Geschichte vom reichen Jüngling, illustriert durch einen Brief eines jungen Mannes, den sie erhalten hat von jemandem, der meint, sein Leben sei leer. Vor diesem Hintergrund ist das ewige Leben, von dem in der Geschichte Jesu die Rede ist, ein Leben mit Sinn und Bedeutung (Markus 10,21). Bezogen auf den Reichtum heißt das rhetorisch ausgedrückt:
„Überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig.“
(S. 15).

Um die Vorstellung von Gott als den Grund des Lebens zu verdeutlichen, verbindet sie diesen Gedanken mit der Gabe des Lebensatem aus der Schöpfungsgeschichte (Genesis 2,7). Reichtum verhindert, so führt sie weiter aus, die Berührung durch Gott. Der Wunsch, das Leben zu sichern und zu schützen zerstört die Fülle und den Sinn des Lebens gleichermaßen. So tritt die Gegenwart Gottes in unserem Leben als Erfahrung auf, die zwar gegeben und geschenkt ist, aber jedoch auch verweigert oder verhindert werden kann.
Es ist also nicht nur die Frage, wie Gott lebt, sondern wie wir Gottes Gabe des Lebens annehmen. Das Leben Gottes und unsere eigene Existenz sind nicht voneinander zu trennen.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht allein theoretisch zu beantworten. Gott wird zum Sinn des Lebens, indem er geglaubt wird und wir unser Leben entsprechend praktizieren. Der Sinn des Lebens in Gott ist keine metaphysische Gegebenheit, sondern der Vollzug v. Existenz. Die Bedeutung Christi ist demnach eine Frage, die an uns gestellt ist. So gesehen ist der Sinn eben nicht allein eine Aussage, sondern ebenso gut auch eine Frage: „Wie lange werden wir noch in der Ausbeutungs- und Unterdrückungsordnung dieser Welt mitmachen?“ (S. 17). Es gibt keine Fülle des Lebens ohne die Liebe. So sagt Dorothee Sölle im Sinn von Dietrich Bonhoeffer: „Der Reichtum des Menschen liegt in seinen Beziehungen zu anderen, in seinem Dasein-für-andere.“ (S. 17) Der Reichtum des Lebens wird mit den Worten eines Propheten in Symbolen der Befreiung beschrieben (siehe Jesaja 58, 6 – 12). Die Gegenwart Gottes, der Sinn des Lebens, erwächst aus der Erfahrung von
Befreiung
. Der Sinn des Lebens in Gott ist also zuletzt ein Prozess der Vollendung.
Die Frage nach dem Ewigen ist nicht die Frage nach der Zeit, sondern nach der Erfahrung dieser Vollendung.
Zuletzt sei dazu ein kurzer Abschnitt aus dem Schlusswort zu zitieren: „… ich werde einen Namen haben, ich werde Antwort bekommen, ich werde nicht mehr ein hilfloses, ängstliches Wesen sein, vielmehr wird die Wahrheit der Welt, der Sinn des
Lebens offen zutage liegen. ‚Siehe, hier bin ich‘, sagt Gott in diesem Text, nicht weit fort, nicht später einmal oder früher bei glücklicheren Völkern, sondern hier ist der Sinn des Ganzen: Entzieh dich nicht deinen Brüdern, dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte. Das Christentum sagt nichts, was nicht auch an anderen Stellen der Welt zu hören wäre. ‚Wenn du aus deiner Mitte entfernst die Unterdrückung…‘ Nur formuliert es zugleich ein endliches Versprechen: Nichts ist sinnlos. Teresa von Aquila sagte:
‚Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel.‘
An keiner Station dieses Weges, er mag in noch so große Dunkelheit führen, bist du allein. Wenn Du dich auf die Bewegung der Liebe einlässt, wird deine Kraft gestärkt. Dein Reichtum wächst, je mehr Du teilst. Wo immer du dich auf die Bewegung der Liebe einlässt, da ist die Liebe bei dir, die Fülle des Lebens.“
(S. 18)
In den Worten Dorothee Sölles ist Gott also eine Aussage über den Sinn des Lebens und
eine Erfahrung. Die Bedeutung des Lebens, die Fülle des Lebens liegt darin, wie das Leben beseelt ist. Auch diese ökumenische Versammlung wird an der Theologie Dorothee Sölles nicht vorbeigehen können.
Zitiert aus: Dorothee Sölle: Leben in seiner Fülle, in: Junge Kirche, Zeitschrift europäischer Christinnen und Christen, 3/2003