Der Mensch in der Entscheidung

DER MENSCH HÄLT DAS WELTNETZ IN DER HAND
Die ganzheitliche Schau
der heiligen Hildegard von Bingen

Die Kirche verkündet die Botschaft Christi getreu dem Auftrag des Herrn über die Zeiten
hin und für jede Zeit nicht nur kraft der Autorität des Amtes, sondern auch immer wieder kraft der Autorität der vom Geiste Gottes ergriffenen Propheten und Mystiker. Ihnen eröffnet Gott – rein aus Gnade – wie durch ein Fenster etwas von seinen Geheimnissen.
Wenn sie das Geschaute unverändert weitergeben, dann leuchten in den Dingen und Ereignissen dieser Welt aus der Perspektive Gottes die wesentlichen Sinnzusammenhänge auf. Diese fließen vor allem aus den unsichtbaren Realitäten, von denen Hildegard von Bingen sagt, sie seien das eigentlich Starke und Schöpferische.

Es ist uns angeboten, in die Schule dieser Frau des 12. Jahrhunderts zu gehen, die –
wie nur ganz wenige Menschen in der Geschichte der Kirche – vom Geist einer ungewöhnlich starken Prophetie begabt und belastet wurde. Aus der Quelle ihrer Schau können wir Licht für die Fragen und Probleme auch unserer Zeit schöpfen.

Wir suchen allerdings vergebens in den Werken Hildegards nach einer systematischen
Lehre über bestimmte Themen. Die Heilige weist einfach auf das Ganze der Wirklichkeit, die sich ihr zeigt, auf den „ordo essendi“, der ihr wie selbstverständlich zum „ordo agendi“ wird. Welt und Mensch, Geist und Geschichte, Natur und Gnade: alles steht hier in einem geschlossenen Integrationsprozeß, steht im Bund. Wir suchen heute im Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichtes, der Umweltbedrohung und seelischen Verwilderung ein Bezugssystem (Bindungsorganismus) für unsere Lebensführung, eine Heilkunde als
Alternative zur Heiltechnik. „Der Mensch hat die Schöpfung in das Chaos der Geschöpfe zerrissen, er hat die Luft verpestet mit all diesem Weltgestank.“ So lautet Hildegards
Diagnose. In diesem kurzen Artikel soll darum besonders Wert auf die ökologische
und therapeutische Dimension des christlichen Weltbildes gelegt werden.

Der Mensch kann seinen ökologischen und therapeutischen Auftrag als „operarius divinitatis“ nur erfüllen, wenn er selbst im Bund mit Gott und dadurch im Verbund, in Verbundenheit mit allem Geschaffenen steht. Hildegard sieht den Menschen, „das Werk aller Werke Gottes“, als Zusammenfassung der erschaffenen Welt mit seinem Leib in der Mitte des Universums stehen. Er ist der gesamten Schöpfung durch das Medium seiner Leiblichkeit eingeästet wie die Zweige dem Baum; umgekehrt ist die ganze Schöpfung und die Geschichte ihm ebenfalls verbunden und einverzweigt. „0 Mensch, schaue dir diesen Menschen nur recht an: Himmel und Erde birgt er in sich selber, seinetwegen hat Gott alles erschaffen.“ Der Mensch ist, um mit Gott wirken zu können, in einer dreifachen Weise beheimatet,
eingenistet. „Alles in der Schöpfung Gottes hält einander und antwortet einander.“
Der Mensch kann nirgends hinstürzen, er ist ein „opus cum creatura“, gehalten in und von der Schöpfung und der Geschichte. Mit beiden zusammen ist er als ein Ganzes dem Herzen der menschgewordenen Liebe anvertraut; dem kosmischen Christus, und mit ihm und in ihm ruht er wie ein kleiner schmutziger Klumpen Lehm im Herzen des Vaters, im Herzen des Schöpfers. Hildegard kennt eine Herz-Vater-Mystik. Das „opus Dei“ lebt aus einem       Urvertrauen, es weiß um die Tröstung, die nur der personale Urgrund aller Existenz vermitteln kann, der Vater. Aber auch in der Interaktion personaler Kommunikation geschieht
für ihn liebende Zuwendung, immer neu auf einen anderen zu und von einem anderen her (opus alterum per alterum), Den Sinn solcher Wirklichkeit zu erfahren ist aber nicht Sache des Wissens, sondern nur einer Einsicht ins Ganze: der Deutung von Welt, Kosmos und
Geschichte im „opus cum creatura“.

Alle Schöpfung ist durchtönt vom Bund der Liebe. „Und alle Welt empfing den Kuß ihres Schöpfers.“ Deshalb darf die Schöpfung in inniger Liebe zu ihrem Schöpfer wie zu einem Geliebten sprechen und nach ihrer Heimat verlangen. „Ich aber – spricht Gott – ich vergleiche die große Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen und der Geschöpfe zum Schöpfer mit jener Liebe und Treue, mit der Gott den Mann und die Frau zu einem Bund zusammengab, auf daß sie schöpferisch fruchtbar werden. So ist alles Gehorchen der Kreatur nur ein Verlangen nach dem Kuß des Vaters.“

Gott ist es, den der Mensch in jedem Geschöpf erkennt. Die „bonitas patris“ spiegelt sich überall aus: in den Engeln, Menschen und Geschöpfen. Kosmos und Geschichte sind die großen Spiegel Gottes. Es ist ein einziger „ordo ad invicem“, in dem alles einander Antwort gibt. Die ganze Welt lebt in einem kosmischen Verbund, wie auch der Mensch in einer Partnerschaft lebt. Die ganze Natur sollte sich dem Menschen zur Verfügung halten, auf daß er mit ihr wirke, „könnte doch der Mensch gar nicht existieren ohne diese seine natürliche Welt“. Die Elemente, die Körperteile, die Sinneskräfte, das Seelenleben und die Gnadengaben sind in einem universellen Zusammenhang und Zusammenhalt zu sehen.
Deshalb müssen alle Weltgesetze und Naturkräfte auf den Menschen hin interpretiert werden: Der Kosmos trägt anthropologische Grundstruktur. Wohnung Gottes in der Schöpfung zu sein, das ist der Sinn der Natur. Die Welt lebt im Bündnis.

Bild für diesen Bindungszusammenhang, für diesen großen Bund, ist bei Hildegard das Weltnetz. Es ist dem Menschen, den Gott auf den Richterstuhl der Welt gesetzt hat, in die Hand gegeben. Er selbst ist zwar (über Generationen) in dieses Weltnetz verflochten mit Anlagen, Verhältnissen und Verhängnissen; doch hält er die Weltelemente in seiner Hand wie ein Mensch ein Netz hin und her bewegt. Jeden Augenblick seines Lebens hat er sich für oder gegen Gott zu entscheiden, denn er ist ein „homo rationalis“, d.h. ein Wesen, das sich zu entscheiden wagt und dafür die Verantwortung trägt, die Verantwortung für Erhebung oder Fall. „Es gibt keine leere Stelle in unserer Existenz, keinen Anspruch, keinen
Augenblick, in dem der Mensch sich nicht nach rechts, links, oben oder unten orientieren müßte und in dem er sich nicht für Gott oder das Böse zu entscheiden hat. Wenn er das
Auge seines Herzens licht macht, wird alles grünen, was dürre ist. Korn und Wein wachsen durch diese geheime Grünkraft, die in die Keimkräfte des Kosmos und die Heilkräfte der Geschichte träufelt.“

Der Mensch bewirkt also außerhalb seiner selbst, was er in sich selbst entscheidet,
„denn es geht vom Herzen des Menschen ein Weg zu den Elementen des Weltenbaues“. „Wenn der Mensch sich auf dem Weg des Herzens (iter cordis) befindet, dann ist er ein Heimweg aller Dinge zu Gott.“ Die seinsmäßige Solidarität wird für den Menschen zur
ungeheuren Verantwortung im Hinblick auf das Ganze. Zwischen dem Lob der Engel und dem Klang der Schöpfung liegt das Feld der menschlichen Entscheidung. Engel und Welt stehen in Spannung auf das Verhalten des Menschen. Wird er die richtige Antwort finden und damit seinen positiven Beitrag geben, sein Werk einbringen, daß Kosmos und Geschichte durchlichtet werden, aufblühen und zu ihrer Vollendung gelangen?
Oder wird er versagen und dadurch die ganze Schöpfung mit sich ins Chaos reißen?

Der Mensch versagte und versagt immer noch. Er zersplitterte das Eine-Ganze in die
chaotische Vielzahl einer totalen Bindungslosigkeit. Seine kosmische Mission scheiterte.
Er, der im Bund mit Gott der Herr der Welt sein sollte, ist ein „horno rebellis“ geworden.
Er belastet mit seiner Verfremdung nicht nur sich selbst, sondern bringt draußen alles in Verwirrung und versetzt das Gefälle der Zeit in unheilvolle Bewegung (Schipperges).
Die Elemente, die ihm freiwillig dienten, weil sie spürten, daß er Leben hatte, wurden
nun in eine rätselhafte Dunkelheit gehüllt, sie zeigten sich widerspenstig.

Vielleicht haben wir heute erst wieder ein Ohr für die erschütternde „Klaqe der Elemente“, da wir in der Lage sind, die Natur zu zerstören. „Wir können nicht mehr laufen und unsere natürliche Bahn vollenden, denn die Menschen kehren uns von unterst zu oberst.
Wir – die Luft, das Wasser – stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach
einem gerechten Ausgleich.“ Nicht als ob die Elemente mit lauter Stimme schreien oder mit Bewußtsein klagen könnten wie ein vernünftiges Geschöpf, „ihr Wehgeschrei ist
rauschendes Tosen, ihr Klagelied ist Furcht und Schrecken“.

Der Mensch ist verantwortlich für den Verlust des natürlichen Gleichgewichtes –
das wird an klimatischen Katastrophen, an Luftverschmutzung, Mißernten aufgezeigt.
„Ich sah … Regenschauer voller Schmutz, die bei Mensch und Vieh schleichende Schwären und Geschwülste hervorriefen.“ Hildegard sieht eine Art Nebel, welcher das Grün der Erde ausdörrt und Mensch und Tier mit Seuchen heimsucht. Einem Menschen, der in plötzlicher Todesgefahr keinen Priester findet, rät die Prophetin, er möge sich vor die Luft stellen und der Luft seine Sünden bekennen, denn er hat die Luft verschmutzt. „Nun sind alle Winde Moder des Laubes, und die Luft speit Schmutz aus, so daß die Menschen nicht einmal
mehr ihren Mund aufzumachen wagen.“

Die wachsende Bindungslosigkeit des Menschen führt nach Hildegard die Menschheit in
einen globalen Zustand von Depression und Terror. Dem Menschen ist sein Leben nicht mehr lebenswert.

Das dreifach-eine „opus“ des Menschen: der humane Umgang mit der Natur, gerechte
zwischenmenschliche Beziehung und der transzendentale Bezug, ist zerbrochen.
Der Mensch hat sich von der Bindung nach oben, von der Verantwortlichkeit füreinander und für die Welt emanzipiert.

Durch die Sünde, die nach dem Muster des Satanssturzes als Auflehnung, Isolierung und Maßlosigkeit gesehen wird, ist das Geschöpf aus dem Bund gefallen. Es lebt in der Verfremdung, aus seinem Erbe vertrieben, allen Gefahren ausgesetzt, in Sorge und Angst, heimatlos. Der zerbrochene Bund läßt die Grünkraft (viriditas) verdorren.

Doch teilt Hildegard nicht den kritischen Pessimismus einiger Zeitgenossen, die da sagten: „Wie kann Gott dem Menschen eine solche Weltverantwortung aufladen? Er müßte doch wissen, wie labil wir sind.“ Auch Hildegard weiß, daß wir immer den Geschmack des Apfels (Anspielung auf den Paradieses-Apfel) im Mund haben, und daß uns das Sündigen mehr liegt als die Tugend. Auf die Anfrage ihrer Zeitgenossen richtet sie ihren Blick in das
‚Lebendige Licht‘ und erbittet von Gott eine Antwort. Sie lautet:
„O Mensch, du bleibst mir verantwortlich für Schöpfung und Geschichte!“
Gott erklärt der Prophetin, warum er bei seinem Plan der Zusammenarbeit (cooperatio) mit dem geschwächten und krank gewordenen Menschen bleiben will. „Warum kehrt ihr nicht heim, wenn ihr gesündigt habt? Ich biete euch aus meinem Vaterherzen die stärkste Kraft des Lebens und der Liebe an: die Reue! Mein leidenschaftlicher Eifer treibt euch an, nach einem Fehltritt wie der verlorene Sohn zum Vater zurückzukehren. Aber ihr habt sogar die Freude am gemästeten Kalb verloren (Anspielung auf das Festmahl, das der Vater dem verlorenen Sohn gibt). Ihr wollt nicht zurückkehren.“

Wenn der Mensch also in der Lebenskraft Gottes nicht die Tugend baut, dann bleibt ihm dennoch die ungeheure Chance, die überaus starke Kraft der Reue und der Buße zu ergreifen, jene „virtus“, von der Hildegard sagt, sie sei schlechthin die welterneuernde Dynamik. Mit ihr können wir die kosmischen Elemente in Bewegung setzen, rühren wir gleichsam an die Sterne. Die Kraft der Reue läßt die Natur aufblühen und fruchtbar werden. In ihr wird
alles neu geboren, verwandelt sich die „destitutio“, der Verfall der Welt, in die „restitutio“,
in die Wiederherstellung der Schöpfung. Die Reue reinigt alles, sie heiligt, sie trägt alles,
sie stützt und festigt alles, sie setzt alles in Bewegung, sie zieht alles an sich und durchdringt es. „Auf der Reue ruht die Welt.“ Deshalb ruft Gott, der Schöpfer und Wirker im
Universum, den Menschen zur Reue auf, damit er Mitarbeiter für die ganze Welt werde.
Es geht also auch beim Bußruf der heiligen Hildegard (als Echo auf den Bußruf Christi, als
Echo auf den immer wieder erneuten Bußruf der Gottesmutter an ihren großen Erscheinungsorten) nicht um eine ethische Engführung, es geht um das Ganze des Menschen,
der Schöpfung, der Erlösung, des Fortganges der Welt bis zur Wiederkunft des Herrn.

Die Lebenskraft der „virtutes“ (vor allem der Reue) leuchtet in den Weltstrukturen wie im Säftesystem des Organismus auf und zwingt damit die kosmischen Elemente in eine ethische Verbindlichkeit. Entfaltung und Entwicklung werden nicht als naturalistische Evolution oder humanistische Reifung allein verstanden, sondern sie sind mit Heilung verbunden. Wirksamstes Heilmittel ist nicht der technische Eingriff, nicht das Arzneimittel, sondern die Reue, Erschütterung, Einsicht, Einkehr, Umkehr: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Diese Herzensbewegung, die eine unglaubliche Resonanz im Himmel und im Weltall findet, ist der Restitutionsfaktor erster Ordnung: Bauplan des neuen Herzens.
Nach Max Scheler ist die Reue die revolutionärste Kraft.

Neuzeitliche Pathologie sieht in Krankheit nur Fremdkörper, Unfall oder Zufall. Hildegard fragt tiefer. Was meint Physiologie – Pathologie – Therapie in theologischer Sicht, in den anthropologischen Dimensionen, im ökologischen Horizont?

Ein Genesungsprozeß für den Menschen und seine ganze Welt und Geschichte kann nur durch Einstrahlung der „viriditas“ (Lebenskraft, Grünkraft) aus dem Lebensgrund erfolgen. Grün ist für Hildegard keine Farbe, sondern ein Habitus: Grün ist das Herz Gottes, grün ist gezeugtes Licht, grün ist der Leib des Menschen, seine Zeugungskraft, die weibliche Schönheit, grün ist gesundes Sein. „Die Grünkraft Gottes brach durch, als Christus mit der Kraft des Löwen die Himmel durchbrach, um im grünen Schoß der Jungfrau zu schlafen.“
Maria ist darum die „viridissima virgo“, aus deren lichtem Schoß das Heil in die Welt kam.
Sie ist die „mater medicina“, die lichte Mutter der heiligen Heilkunst, da sie der „integritas“ vermählt war: dem heilen Ganzen, dem ganz Heilen. Der Heilige Geist schenkt durch sie dem Menschen den grünen, d.h. den offenen Raum, aus dem heraus er bereit ist, Antwort zu geben und sich in freier Entscheidung dem Werk hinzugeben. „So zündet der Heilige Geist durch unsere verfremdete Wirklichkeit.“

Richten wir unser Augenmerk noch einmal auf die „virtutes“, auf diese aufbauenden und heilenden Kräfte Gottes. Gott kommt mit seinem Leben ja auf eine krank gewordene Welt zu, und darum ist seine Kraft in einem gewissen Sinne immer therapeutisch. Wenn der Mensch sie aufnimmt und mit ihr die Tugend baut, dann wird er selbst geheilt und wirkt mit an der Heilung der Welt. Die Tugend des Menschen und die Kraft Gottes sind zwar untrennbar, aber sie sind auch unvermischt. Es sind Heilmittel. Darum nennt Hildegard sie gerne Salbe, Öl. Sie sind aber auch ganz starke Abwehrkräfte. Mit ihnen kämpft der Mensch gegen die Risikofaktoren, die Laster, die ihn krank machen. Diese Laster treiben den Menschen ins „ex- tra humanum“, ins Unmenschliche, ins Gespenstische. Der Mensch zieht durch diese Laster auch die Umwelt, die Geschichte ins Chaos. Die Ärztin Hildegard sieht als unerläßliche Bedingungen für eine Heilung die Rückkehr in den Bindungsorganismus, die Rückkehr zum Vater und damit auch zur Umwelt. Die „poenitentia“ als Heimweg ist
der Faktor der Erneuerung schlechthin, ist therapeutische Aufarbeitung des sündhaften Verfalls der Welt und des Menschen. „Vom Herzen aber geht Heilung aus, wenn das Morgenrot (Maria) wie der Glanz eines ersten Aufgangs sichtbar wird. Unsagbar ist, was dann
in neuem Verlangen und neuem Eifer folgt.“ So schreibt Hildegard an Papst Anastasius IV.

Unter den „virtutes“ Gottes hebt Hildegard in besonderer Weise die Barmherzigkeit hervor. Sie ist das Öl, das in die vom Wein der Reue desinfizierte Wunde gegossen werden muß.
So ermahnt sie vor allem die geistlichen Obern, daß sie Barmherzigkeit anwenden.
Der Arzt gibt also nicht nur ein Medikament, er gibt sich im Mitgefühl, im Mitleiden, in der Barmherzigkeit. Das ist für Hildegard entscheidend. In ihrem Buch SCIVIAS spricht sie auch einmal die Apotheker, die Salbenmischer an und ruft ihnen den bemerkenswerten Satz zu:
„Wie könnt ihr Arzneimittel verabreichen, wenn ihr selbst nicht die Tugend übt?“
Immer wieder leuchtet bei Hildegard die Ganzheit auf.

Nach Meinung von Herrn Professor Dr. H. Schipperges werden wir das dritte Jahrtausend kaum überstehen mit seinen jetzt schon anrollenden chronischen Krankheiten, wenn wir nicht die von Hildegard verlangte „regula vitae“ finden, eine Lebensregel, in deren Mitte
die Maßhaltung steht. Die Maßhaltung ist eine Heilkraft Gottes, durch die wir in die Ein- und Zuordnung zum Ganzen kommen. Das Ganze steht uns zwar dienend auch für unsere Gesundheit zur Verfügung, aber nur, wenn wir uns einordnen; „denn in der Schöpfung ist alles mit ausgewogenem Maß gemessen und maßvoll einander angepaßt“. Maßlosigkeit bedeutet also Isolation und ist schon Krankheit. Ist der Mensch im rechten Maß, dann ist
er mit der Schöpfung und der Geschichte im rechten Zusammenspiel, er wird gesund.
Es ist bezeichnend, daß die gefürchtete Krankheit unserer Zeit der Krebs ist, eine Wucherung, die sich selbständig macht und damit das Zusammenspiel der Kräfte tödlich stört. Durch die Maßhaltung kommt der Mensch an den springenden Punkt des Lebens,
der Gesundheit, an den sensiblen Punkt der Heilung und Weiterentwicklung.

Hildegard beschreibt diese Maßhaltung für die Kräfte des Menschen so: „Wenn der Mensch geistig mehr aufnimmt als er innerlich verarbeiten und ins Werk setzen kann, dann wird er krank, weil er im unrechten Maß ist. Es fehlt ihm das „opus cordis“, das Werk des Herzens, das alles durchkocht.“ Er wird krank an Verkopfung.

Für Hildegard ist die Gesundheit ein großes Gut, aber nicht das höchste Gut, das Heil!
Die Schöpfungsordnung ist in ihrer Verfallenheit durch die Sünde nur noch als Kreuzesordnung restituierend zu haben. Also kann auch der Schmerz, die Krankheit zu einem Heilfaktor werden. So schreibt sie an einen Bischof: „0 Mensch, du bist Gottes Bild! Jetzt ist er es auch, der dich durch das Gericht der Krankheit siebt. Gott will, daß jegliche Sünde des Menschen gereinigt wird, sei es am Leib oder an der Seele. So trage auch du die Krankheit deines Leibes nicht als unverdiente Last und mit wehem Herzen. Selig bist du, wenn du zu deiner Heilung gezüchtigt wirst.“ Christus ist also der Arzt und auch die Arznei. Darum fügt Hildegard hier und da ihren Rezepten den Zusatz an: „nisi Deus nolet „, außer Gott wolle es nicht. Dieses Medikament wird nur helfen, wenn Gott es will. „Wenn Gott es nicht will, dann wirst du nicht gesund“, dann wird keine Arznei helfen. Die Krankheit selbst wird dann wirksamer Heilfaktor.

Immer dann – so Hildegard -, wenn Gott sieht, daß der Mensch seinen eigenen Willen wie einen Gott anbetet und sich damit auf sich selbst zurückbiegt, nicht mehr Spiegelwesen ist, das Gott in die Schöpfung hineinspiegelt, wird Gott diesen Läuterungsprozeß ansetzen,
unter Umständen durch Krankheit, um den Menschen zur Reifung herauszufordern.
Denn Gott will, daß alles vor ihm rein sei. Damit ist keine dekretorisch verhängte
Strafe gemeint, sondern ein ontologischer und therapeutischer Vorgang. Der Mensch soll als das wieder erscheinen, was er ist: Spiegel des Lebens. Durch körperliche, seelische und geschichtliche Prüfung fegt Gott seine Schöpfung und auch den Menschen rein, läßt er sie
gesunden.

Hildegard setzt Impulse für die moderne Therapie. Unsere Medizin müßte wieder eine „sancta medicina“ werden, das heißt nicht: eine fromme Medizin, sondern eine ganzheitliche, eine menschliche. Um den Menschen wieder als Ganzes zu erkennen und zu heilen, genügt es nicht, ihn psychosomatisch zu behandeln, sondern es muß der ganze Bindungsorganismus zur Transzendenz, zur Interkommunikation und zur Welt hinzukommen.

Gott wirkt durch Zweitursachen und baut die Welt und das himmlische Jerusalem
in diesem großen Bindungsorganismus, in dem der Mensch eine Schlüsselstellung einnimmt. Der Mensch auf dem Richterstuhl der Welt mit dem Weltnetz in der Hand!
In der Selbstheiligung baut er in seinem Erdendasein nicht nur an dieser Welt, er ist auch Werkmann im Aufbau der goldenen Stadt. Nach dem Jüngsten Tag, so meint Hildegard
von Bingen, singen auch die Engel ein neues Loblied, sie staunen über die Werke Gottes im Menschen. Alsdann werden die „Erbauer des himmlischen Jerusalem“ ihre goldene Stadt in Besitz nehmen. „Die leuchtenden Blüten am schönen Leib des Sohnes Gottes“, sie sind nun leibhaftig heimgekehrt, um in ihrer Heimat in Fülle zu leben. Der Bund zwischen Gottheit und Menschheit (Hochzeit) ist von neuem und ewig geschlossen: die Liebe hat den
Kreislauf der Welt vollendet.

Anmerkungen:
Die Hildegard-Zitate wurden folgenden Werken entnommen: „Wisse die Wege“ –                    „Der Mensch in der Verantwortung“ – „Welt und Mensch“ – „Briefwechsel“.
Zitate aus H. Schipperges‘: „Hildegard von Bingen – ein Zeichen für unsere Zeit“
wurden um der Lesbarkeit willen nicht kenntlich gemacht.

GOTT UND MENSCH IM KAMPF MIT DEM BÖSEN
IN DER SCHAU DER HL. HILDEGARD

Ein gewaltiges und dramatisches Thema!
Alle Werke der hl. Hildegard sind imprägniert, durchtönt von dieser Thematik, wie ja
übrigens auch die gesamte Heilige Schrift. Der „entsetzliche Streit“ (Sören Kierkegaard)
bis ans Ende der Zeit nimmt für uns in dem Maß deutliche Konturen und Schärfe an, als wir uns in der Frage nach Gott beständig als „Wesen am Scheideweg“ erfahren, d.h, jederzeit zur Entscheidung aufgefordert, zur Antwort auf ein Wort und damit auch zur Verantwortung. In seiner Frage nach Gott stellt sich also der Mensch dem Kampf. Es wird sich zeigen, daß die Frontlinien dieses Kampfes mitten durch den Menschen gehen, daß also unser Thema zutiefst jeden von uns angeht.

Wie sieht Hildegard den Ursprung und das Wesen des Bösen? In ihrem dritten Buch des Werkes SCIVIAS schaut sie zunächst den „Leuchtenden“, den Schöpfer, den Vater, und in seinem Herzen einen kleinen schmutzigen Klumpen Lehm – den Menschen, jeden von uns, die wir den reinen Schöpfungslehm verschmutzt haben und dennoch im Herzen Gottes
geborgen sind.

Gott hatte vor der Erschaffung unserer Welt geistige Lichtwelten von ungeahnten Ausmaßen ins Leben gerufen, gewaltige Spiegel, die seine Güte und die Welt im reinen Lob spiegelnd interpretieren sollten. Hildegard sieht dieses Heer von sprühenden, lebendigen Feuerbränden, geistigen Lichtgestalten unaufhörlich um den kreisen und schwingen, von dem sie Selbstand, Leben, Licht und Schönheit erhalten hatten: um Gott. Diese Lichtwelten leuchten durch ihre Beziehung zu ihm, dem Ursprung, dem Erfüller, dem Lebensspender. „Ich habe mir“,so spricht Gott, „diese Spiegelwesen geschaffen, auf daß sie mitklingen. Durch mein Wort, das ohne Anfang in mir war und ist, ließ ich ein gewaltiges Leuchten
hervorgehen und in diesem unzählige Funken: die Engel. Jeder von ihnen ist eine Welt,
ein Kosmos für sich.“

Gott ruft aber keine personale vernunftbegabte Kreatur als Spiegelbild seines Antlitzes
ins Leben, ohne ihr die Gabe der Freiheit bis in die tiefste Wurzel ihres Seins zu übereignen. Wirkliche Freiheit aber besagt die Möglichkeit der Entscheidung: Bekenntnis der Beziehung zum Ursprung und damit Anbetung, oder Verleugnung des Ursprungs und damit Nihilismus.

Das Drama begann, als Luzifer, der leuchtendste dieser personalen Lichtwelten,
nicht mehr Spiegel des Ursprungs, sondern selbst Licht sein wollte, sein eigener Ursprung.
Er fällte eine Entscheidung von grenzenlosen Folgen. Hildegard schildert sehr präzise den Prozeß, der zu dieser negativen Entscheidung führte und damit zum Entstehen des Bösen: „Luzifer vertraute auf sich selbst … er glaubte, von sich aus alles beginnen und vollenden zu können, anstatt Gott, der ihn erschaffen, die Ehre zu geben, … er bog sich auf sich selbst zurück und verkehrte sich so ins Böse.“ Was ist hier geschehen? Eine Wendung, eine tragische Wendung hat sich vollzogen. Der Spiegel fängt das Licht nicht mehr auf, um darin selbst licht zu werden, der Spiegel versucht sich selbst zu reflektieren, und dabei
zerbricht er.

Was ist die Folge dieser Emanzipation aus der Beziehung? Luzifer und sein Anhang
schauten nun den, der auf dem Throne sitzt, wie einen Fremden an, wie einen Rivalen,
und wandten sich von ihm ab. Luzifer vergaß (oblivio Dei), daß er in der Glut und im Lichte
Gottes gegründet war – er verachtete Gott – er erhob sich über ihn im Stolz – und steuerte so auf den Sturz zu – denn er wollte sich an eine Stelle erheben, wo man nicht stehen kann. Darum fiel er ins Absurde, ins Chaos.

Was wird hier geschildert? In der Selbstüberheblichkeit der Kreatur entsteht Entfremdung zwischen Gott und dem Geschöpf. Gott wird nicht mehr als Spender des Lebens, als Erfüller, als Vater erfahren. Wenn er aber als Fremder (extra nos) erlebt wird, dann ist er bedrohlich für die sich selbst entfremdete Kreatur. Auf die Entfremdung folgt die stolze Gottvergessenheit. Luzifer vergaß seinen Ursprung. Auf die „oblivio“ folgte die „contemptio“, die Verachtung Gottes. Aus ihr erhob sich der Stolz und führte in die Emanzipation aus der Beziehung. Denn ohne die Verbundenheit mit dem Ursprung verliert das Geschöpf den Eigenstand, verliert seine Identität und stürzt ins Chaos der Beziehungslosigkeit. Luzifer verkohlte an der glühenden Liebeskraft Gottes und stürzte „wie ein Klumpen Blei“ durch alle kosmischen Dimensionen, geblendet und aller Fruchtbarkeit des Lebens beraubt ins Absurde, ins Nichts, ins Chaotische.

Die innerste Liebeskraft Gottes, die Hildegard „zelus Dei“, Eifer Gottes nennt, ist für die von ihrem Ursprung her lebende Kreatur „Milde“, „Faszination“, „Herrlichkeit“, „Licht“, „Harmonie“. Für das emanzipierte Geschöpf aber wird der „zelus Dei“ zum „verzehrenden Feuer“, zum „Sturmwind“, zum „zweischneidigen Schwert“, zum „Blitz“, zum „Gewitter“,
zum „eisernen Knüttel“, er wirkt vernichtend.

Das Böse als personales Wesen ist also nun in der Welt anwesend auf Grund der tragischen Wende. In sich verkehrt, verdreht, hat Satan, der Verderber, nur noch eine Waffe: die Lüge. Der Gestürzte ist in seiner endgültigen Entscheidung seinsmäßig Lüge geworden, Vater der Lüge. Er liegt quer zur Realität des Lebens und sieht nur eine Chance:
im Raum der Geschichte, der Zeit, den Menschen zu verführen und über den Menschen noch einmal gegen Gott einen Kampf zu führen. „Nunc in homine omnem voluntatem meam complebo. – Nun will ich über den Menschen ans Ziel kommen, mein Verlangen
erfüllen!“

Wir könnten nun fragen: Warum hat Gott ihn durch Michael und seinen Anhang nicht
gänzlich vernichtet, als er damals wie ein Sturmwind die seligen Geistwesen aschschwarz ins Nichts vertrieb? Gott vernichtet nicht, was er geschaffen hat. Der Böse, der Verderber, hat einen Spielraum, weil Gott dem schwachen Menschen, den er später mit der gesamten Welt erschaffen hat, den Ruhm seines Sieges geben will. Gott will den Menschen an allem schöpferisch beteiligen, nicht zuletzt auch an der Überwindung des Bösen. Oft hört man heute die Frage: Müßte Gott jetzt nicht eingreifen? Ist Gott untätig geworden, ist sein Arm zu schwach, zu kurz, um uns heute aus so manchen Miseren zu helfen? Hier stehen wir vor einer spannungsgeladenen Konsequenz der Menschwerdung Gottes. Gott will in seinem f1eischgewordenen Sohn Jesus Christus mit und durch die Kreatur, „dem äschernen instabilen Fleischwesen Mensch“, handeln, d.h, er übergibt auch den Kampf gegen das Böse den Gliedern seines geheimnisvollen Leibes, der sich in die Zeit hinein erstreckt.
Der Kampf soll also Geschichte werden, Fleisch werden, der Kampf, der schon in
der Genesis von Gott angekündigt wurde.

Gott will in uns zum Sieger werden, nachdem er selbst durch seine Menschwerdung im Schoß der Jungfrau am Kreuz, dem Vater gehorsam bis zum Tod, im gigantischen Einzelkampf den Widersacher überwunden hat. Erst wenn alle Glieder seines Leibes vollendet sein werden, ist das Endgericht über das Böse vollzogen, ist der Tod besiegt. Jeder Mensch hat aber in der Geschichte seinen unersetzlichen persönlichen Beitrag zu diesem Kampf und Sieg zu geben.

Fragen wir uns nun: Was kann das gestürzte und in sich verdrehte Geistwesen, der Satan, noch tun, und wie antwortet Gott über die vernunftbegabte, die entscheidungsfähige
Kreatur (per rationalem creaturam)?

Der gestürzte Lichtengel hat zwar keine Fruchtbarkeit, keine schöpferische Kraft mehr.
Er ist steril, er kann kein Leben mehr zeugen, aber er kann verführen. „1m Unglauben kommt er mit Verwegenheit und List an den Menschen heran, sucht von außen her Einfluß auf ihn zu nehmen und trifft in ihm auf eine Instabilität, auf die Schwachheit des Fleisches.“
Baut der Mensch, der Versuchung nachgebend, das Laster (Hildegard sagt einmal einem Bischof: „Halt ein, du baust eine Ruine!“), dann gerät er „extra humanum“, wird er unmenschlich. Er verunstaltet sich selbst gespenstisch. Es ist interessant, daß Hildegard in der Erklärung der Parabel vom Guten Hirten dem Menschen selbst die Rolle des Wolfes gibt. Der Mensch zerreißt sich selbst durch das Laster, der Teufel kann das nicht, er kann nur zum Laster verführen. Er erreicht nur über die vom Menschen angenommene Lüge sein Opfer. Widersteht ihm aber das Geschöpf und baut im Kräftefeld Christi, des Guten Hirten, die Tugend (virtus), dann hat der Teufel keine andere Wahl als die Flucht, denn er besitzt keine „Streitmacht“. Er ist verohnmächtigt, er kann nur fliehen. Gegen die „virtus Dei“, die im Menschen schöpferisch wirksam wird, kann er nicht angehen. Seine List ist es, in der Versuchung den Hirten vorzutäuschen. Aber wie gewaltig ist dabei seine Intelligenz.
Meist erkennen wir seine listige Einsprechung erst, wenn es zu spät ist. „Ihr werdet sein wie Gott.“ Die Strategie der Lüge ist immer die gleiche wie damals: Mißtrauen gegen den guten Gott und Vater, Entfremdung, Stolz, Anmaßung und schließlich Rebellion.

Betrachten wir nun einmal genauer, wie Gott das Böse durch den Menschen bekämpft
und besiegt. Der „zelus Dei“, dieser glühende Liebeseifer Gottes, bewohnt uns in der tiefsten Wurzel unserer Person. Hildegard wird gezeigt, wie er unbestechlich und aufmerksam dort anwesend ist, wo wir vom Erkennen zum Handeln übergehen, d.h, wo wir uns entscheiden, in der Tiefe der „spiegelhaften Schau von Gut und Bös“. Wenn wir uns nicht zum Guten und damit nicht für Gott entscheiden, dann übergehen wir diesen „zelus Dei“ in uns – ein ungeheuerlicher Gedanke -, ihn, der – wie Hildegard sagt – mit einem leichten Schlag seiner „Flügel“ die Welt in ein einziges Flammenmeer verwandeln könnte. Gottes glühender Liebeseifer wartet in uns auf unsere Umkehr. Unsere Chance ist es, daß wir geschichtliche Wesen sind, daß wir uns also ändern können. Darum schlägt Gott nicht zu, läßt er das
Unkraut mit dem Weizen wachsen.

Der „zelus Dei“ treibt uns zur Offenheit gegen Gott an, zur Empfänglichkeit für seine aufbauenden, heilenden und das Böse abwehrenden Kräfte, die je nach unserer Lebenssituation in sehr differenzierter Weise für uns bereitstehen, und die wir in unserem Glauben wie in einem Mutterschoß aufnehmen. Gott will uns seine schöpferischen Kräfte geben, damit wir durch sie in die Welt hinein wirken, sie gleichsam in die Welt hinein gebären, einfleischen. Gott will durch uns wirken, sein Leben will in uns fruchtbar werden. Unser Wirken ist zwar ganz aus der Kraft Gottes geboren, aber es ist ebenso auch ganz unsere eigene Tat.
Beides bleibt wahr: Gottes Kraft und des Menschen Wirken. Jeder, der je und je in der
rechten Entscheidung für Gott ins Handeln kommt, treibt also per se das Böse aus der Welt.
Er braucht keine Waffen, er braucht nicht irgendeine Aktion zu starten. Denn das Erste und Wichtigste und Grundlegende ist, daß wir uns selbst für das Gute entscheiden und damit die Kraft Gottes durch uns in die Welt wirksam werden lassen. In dieser Kraft Gottes liegt die „militia fortissima“, die ganz starke Streitkraft Gottes gegen den Diabolus.
Es geht also um das „Überwinde das Böse durch das Gute!“ in dir und damit in der Welt.

„Das gewaltige Brüllen des Löwen (Christus) im Sturm des Heiligen Geistes, er werde die Laster im Feuer vertilgen“, das gilt uns. Mit ihm kämpfen wir gegen die Risikofaktoren der Menschheit. Erliegen wir aber der Lüge und bauen das Laster, dann verhindern wir die Gottesgeburt in uns und in die Welt hinein. In uns selbst liegt also die Frontlinie im Kampf mit dem Bösen. Durch die entscheidungsbegabte Kreatur wird Gott oder dem Bösen im Menschen, im Kosmos und in der Geschichte Raum gegeben. Von daher kann man sehr tief und weit das Apostelwort verstehen: „Gebt dem leidenschaftlichen Eifer Gottes, dem Zorn Gottes, Raum!“ Ich denke auch an ein Wort unseres Hl. Vaters bei einer Pastoralreise:
„Erkennt eure Kraft als Kinder Gottes! Sie ist stärker als alle Atomkraftwerke zusammen.“
„Der schnellste Weg zum Frieden ist die Umkehr des Herzens.“ Hildegard sagt:
„Vom Herzen geht Heilung oder Chaos aus. Das Herz des Menschen ist die Mitte der Welt.“

Schauen wir noch einmal auf den Vorgang des Mitwirkens des Menschen im Kampf gegen das Böse. „Erkenne deine Würde, o Mensch, daß Gott mit dir wirken will!“ Diese Mitwirkung führt uns in den Kampf mit uns selbst. Es geht nie um den Kampf gegen einen Menschen, sondern immer nur um die Überwindung des Chaos, und das ist zunächst in uns zu bekämpfen. Wir haben Widerstände in uns, die Frage nach Gott in concreto richtig zu beantworten. Lasse ich jetzt die Kraft Gottes in mich ein, die mich vielleicht zur Geduld antreiben will, damit sie in mir durch mich den großen geschichtlichen und kosmischen Kampf gegen den Widersacher führt? Vielleicht will der Mensch es gar nicht, er redet sich heraus, er sei doch zu schwach, er könne nicht gegen sich selbst das Böse in sich angehen.
„Ihm antwortet Gott: ‚Wenn du sagst, ich bin unfähig, dann bist du ein Lügner.
Durch mich hast du alles, was du brauchst.‘ ‚Aber ich habe nicht die Kraft, das Gute zu wirken‘, spricht der Mensch. ‚Doch, du kannst es.‘ ‚Ich mag aber nicht.‘ ‚Lerne, gegen dich zu kämpfen.‘ ‚Ich kann nicht ohne die Hilfe Gottes gegen mich kämpfen.‘ ‚Hör zu: wenn das Böse dich überlisten will und du nicht weißt, wie du es abschütteln kannst, dann schreie, bete, weine, daß ich dir zu Hilfe komme. Ich werde das Böse von dir nehmen und dir die Kraft zum Guten geben. Dein Vertrauen wird die Hilfe von mir erlangen, doch nicht ohne Kampf, denn du bist Fleisch. Aber gerade dadurch wirst du mein Kreuz tragen und mein Leiden nachahmen, und so wirst du dich durch mich besiegen. Ich fordere von dir, von
deinem Herzen die Wunden und den Schmerz, indem du dir Gewalt antust.'“ (SCIVIAS)

Dieser bewegende, dramatische Dialog zwischen Gott und Mensch wirft ein helles Licht
auf unser Thema. Gott will seine größten Wunder im schwachen, wankelmütigen Menschen wirken – doch nicht ohne dessen freie Mitwirkung. Die Kulissen hinter unserem scheinbar ganz persönlichen verborgenen Kampf öffnen sich immer wieder in den Werken der hl. Hildegard (vor allem im LIBER VITAE MERITORUM). Es erscheint das Eschaton, das Letzte. Drastisch werden die kosmischen und geschichtlichen Auswirkungen durch Sieg oder Niederlage menschlichen Kampfes, durch das Böse oder durch das Gute gezeichnet. Als „homo rebellis“ belastet der Mensch mit seiner Entfremdung nicht nur sich selbst,
sondern bringt alles in Verwirrung und setzt das Gefälle der Zeit in unheilvolle Bewegung.
Die Elemente, die Natur zeigen sich widerspenstig, das natürliche Gleichgewicht geht verloren, der Mensch wagt in der wachsenden Luftverschmutzung nicht mehr zu atmen.
Die Menschheit gerät in einen globalen Zustand von Terror und Depression, denn das
Leben ist der Menschheit nicht mehr lebenswert. Hildegard spricht von einer Suizid-Stimmung, die sich über die Menschheit legen wird. Nimmt der Mensch aber seine
gigantische Aufgabe wahr, dann ereignet sich Auflichtung der Schöpfung, Gleichgewicht.
Die Geschichte blüht auf, es entsteht Entwicklung, Fortschritt, Menschlichkeit, Verbundenheit, Heilung, Sinn. Der Mensch wird, was er sein soll: das Herz der Welt, Heimweg aller Kreatur zum Ursprung, Kontaktstelle mit der Dynamik der weltbewegenden Kraft,
die Gott ist.

Was geschieht aber, wenn wir dem Eifer Gottes keinen Raum geben? Wird Gott dann
gleichsam ohnmächtig am Menschen? Ist der Mensch dann die Wand, an die Gott stößt
und durch die er nicht mehr heilend in die Geschichte wirken kann? Nein, Gott hat noch
andere Wege, um mit seiner Liebe beim Menschen ans Ziel zu kommen. Sein „zelus“ treibt den versagenden Menschen zur Reue an, zur Umkehr. Die Reue, die Umkehr ist die zweite große Chance des Menschen im Kampf gegen das Böse. Gelingt es ihm nicht, auf Anhieb das Gute zu tun, so kann er es in der Reue vollenden, „denn die Reue ist die Flamme der
leidenschaftlichen Liebe Gottes. Was die Reue reinigt, das prüft seine Liebe nicht mehr im Gericht“. Wenn der Mensch in seinem Herzen spricht: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater zurückkehren“, kommt er in die unmittelbare Berührung mit dem Feuer Gottes. Dann holt er nicht nur auf, was er im Erliegen in der Versuchung in sich und in anderen versäumt und zerstört hat, vielmehr: die Reue ist die welterneuernde Kraft. Auf ihr ruhen die Grundfesten der Schöpfung, in ihr wird die Welt von der Liebe Gottes durchlichtet.
Gott nimmt es also auf sich, mit dem instabilen und sündigen Menschen Weltverantwortung, Geschichtsverantwortung wahrzunehmen, weil er ihm die starke Kraft der Reue
reserviert hat als Geschenk der Passion seines Sohnes, und die Kraft der Umkehr, der Heimkehr zu geben bereit ist.

Was geschieht aber, wenn die Kreatur sich verhärtet, verbittert, wenn sie nicht umkehren will, wenn sie überhaupt nicht wahrhaben will, daß sie etwas falsch gemacht hat?
Was geschieht, wenn sie ihren Schöpfer nicht kennt als den liebenden Vater, der auf den Sohn wartet, sondern weiter in die Verfremdung, in das Elend abwandert? Gibt es dann noch eine Möglichkeit für Gott im rettenden Kampf gegen das Böse?

Durch das Laster hat der Mensch die Elemente, die Strukturen von Kosmos und Geschichte in sich und um sich in Unordnung gebracht, er hat sie ihrem Sinn entfremdet. Die so tangierten, in ihrer Funktion gestörten Elemente richten sich nun gegen den Menschen und verursachen Drangsale aller Art: Naturkatastrophen, Kriege und vieles andere mehr.
Der Eifer Gottes will durch solche Prüfungen den rebellischen Menschen zur Heimkehr bewegen. Sie sind Zeichen des Erbarmens Gottes, Ruf des Vaters nach dem verlorenen Sohn, nicht Strafstöcke. Freilich, auch hier gibt es wieder die erneute Möglichkeit einer noch stärkeren Verhärtung auf seiten des Menschen. „Warum läßt Gott das zu? Gott kann nicht gut sein.“ Wie oft hört man das heute. Also wiederum die Möglichkeit der Abwehr.

Dennoch öffnet Gott noch einmal die Tür seines Erbarmens. Hildegard beschreibt dies im Buch LIBER VITAE MERITORUM: In der Todesstunde eines jeden Menschen führt Gott ihm
in der Dynamik seiner rettenden Kraft die Tugenden, die Kämpfe, die bestandenen Leiden anderer Menschen in einer geheimnisvollen Osmose zu. Es ist ein Geheimnis Gottes, ob
der Sterbende dafür offen ist, sie zu empfangen (auch wenn er bereits ganz verohnmächtigt ist). Hier setzt die Wirklichkeit der „communio sanctorum“ zutiefst ein, durch die der Mensch noch in seiner letzten Stunde gerettet werden kann. Wir haben diese großartige Wichtigkeit der „hora mortis nostrae“ nicht mehr vor Augen, wir haben sie heute meist
verdrängt. Die letzte Überwindung des Bösen für den einzelnen geschieht dann nach dem
Tode am Ort der Reinigung in der Transzendenz, wo Gott noch einmal in seinem Erbarmen dem Menschen anbietet, sich umschmelzen zu lassen in die Sohnschaft, in den Ursprung und in sein Bild hinein. Wenn dann die Vollzahl der Glieder des Leibes Christi schließlich vollendet sein wird, wenn die Geschichte in ihre letzte Stunde kommt, dann ist der apokalyptische, kosmische Endkampf und Sieg über den Satan und seinen Anhang da, an dem jedes Glied dieses geheimnisvollen Leibes in irgendeiner Form Anteil hat. Jene, die dann
zu Christus gehören, sind der Sieg über das Böse. Ob es eine Kreatur gibt, die sich bis zuletzt gegen das Erbarmen Gottes sperrt und dann das endgültige Chaos, die Hölle wählt, bleibt uns vorerst verborgen. Die Hölle ist nur von innen her, und nicht von außen her
zugeriegelt.

Wir stehen bereits im Endkampf, mag die Welt auch noch Tausende von Jahren bestehen. Der Verderber intensiviert seine Machenschaften, weil er weiß, daß er nur noch kurze Zeit hat. Danach hat er ja ausgespielt, weil er dann nicht mehr über den Menschen gegen Gott kämpfen kann. Und darum verstärkt er jetzt seinen Kampf. Seine Macht durch Lüge, Täuschung, Verblendung vernebelt immer stärker den Kosmos und die Geschichte.
Seine Zerstörungswut fleischt er in den Menschen ein, er setzt sich in ihn fest. Hildegard sieht (SCIVIAS), daß seine schreckliche Fratze am sensibelsten Ort der Menschheit erscheint: im Schoß der Frau, im Uterus der Frau Kirche, der Frau Welt, der Frau schlechthin. Dort, wo sich unteilbar die Frage nach dem Leben stellt, nistet er sich ein. Dort wird ihn dann, wenn Gott die Endstunde der Geschichte herbeiführt, der Finger Gottes endgültig vernichtend treffen. Dann werden die Menschen wie aus einem Traum erwachen und
klagen: „Ach, wie entsetzlich sind wir belogen worden!“

Es ist also nicht von ungefähr, daß die Frau (Maria) als das große Zeichen dabei eine entscheidende Rolle spielt,nicht weil sie eine kämpferische Person wäre, sondern weil sie in ihrem Sein als „Immaculata“ bereits der Sieg über das Böse ist, so wie sie als die „Assumpta“ schon das sichere Zeichen unserer Hoffnung darstellt. Sie ist das „unverdorbene Konzept“ vom Menschen. Denn in keinem Augenblick ihres Lebens gab es in ihr eine Valenz,        die nicht von der schöpferischen Kraft Gottes in Anspruch genommen war. Gott konnte also in diesem seinem geliebten Geschöpf total „zum Zuge kommen“. Darum feiert die Liturgie sie nicht nur als die ganz Schöne (tota pulchra), sondern auch als „schreckenerregend wie ein geordnetes Kriegsheer … Tausend Schilde hängen an dir!“

„So ist sie das große Gestirn des Kosmos, vor allem in der Endzeit die sichere Hoffnung
auf das Gelingen des großen Planes Gottes mit dem Menschen in der endgültigen Überwindung des Bösen. Alle Welt und Geschichte steht deshalb im Zeichen jener Frau, die dabei ist, die Glieder „des schönen Leibes“ ihres Sohnes für diese „Stunde Gottes“ zu sammeln.

Das berückende Absolute Max Planck und die Verteidigung der Wissenschaft
„Das Einzige, was wir mit Sicherheit als unser Eigentum beanspruchen dürfen, das höchste Gut, was uns keine Macht der Welt rauben kann und was uns wie kein anderes auf Dauer zu beglücken vermag, das ist eine reine Gesinnung, die ihren Ausdruck finden in gewissenhafter Pflichterfüllung. Und wem es vergönnt ist, an dem Aufbau der exakten Wissenschaft mitzuarbeiten, der wird sein Genügen und sein innerliches Glück finden in dem Bewusstsein, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“
„Das Glück des Forschers besteht nicht darin, eine Wahrheit zu besitzen, sondern die Wahrheit zu erringen. Und in diesem fortschreitenden erfolgreichen Suchen nach der Wahrheit, da liegt die eigentliche Befriedigung. Wenn der Quell versiegt, wenn die Wahrheit gefunden ist, dann ist es zu Ende, dann kann man sich geistig und körperlich schlafen legen.
Aber dafür ist gesorgt, dass wir das nicht erleben, und darin besteht unser Glück.“