Rembrandt, Saint Paul in Prison,
oil on canvas, 1627.
Werdet einander zu Sklaven
Die Briefe des Paulus ergründen das Paradoxon von Freiheit durch Liebe.
Die Briefe des apostels Paulus enthalten einen klaren Aufruf:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst
euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen.“ (Gal 5,1)
Kaum hat Paulus jedoch zur Freiheit aufgerufen, fügt er etwas Entscheidendes hinzu:
„Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern; nur benutzt eure Freiheit nicht als
Anlass zur Selbstsucht [wörtlich: des Fleisches], sondern werdet einander durch die
Liebe zu Sklaven.“ (Gal 5,13 Übers. aus dem Englischen, NRSV). Paulus weiß, dass dies ein Paradoxon ist: Nutzt eure Freiheit um euch zu versklaven! Das ist kein rhetorischer Trick; es sind zwei Seiten derselben Medaille. Im Römerbrief bemerkt er: „Als wir noch im Fleisch waren, waren unsere sündigen Leidenschaften, die durch das Gesetz geweckt wurden, in unseren Gliedern am Werk, um dem Tod Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir vom Gesetz befreit, dem tot, das uns gefangen hielt, so dass wir nicht Sklaven des alten geschriebenen Gesetzes sind, sondern des neuen Lebens des Geistes“ (Röm 7,5–6). Befreit aus der Gefangenschaft, um Sklaven zu sein, aber Sklaven einer bestimmten Art. Im Römerbrief wie im Galaterbrief nimmt die „Sklaverei“ im neuen Leben des Geistes die Form der Liebe an: „Niemandem bleibt etwas schuldig, außer der gegenseitigen Liebe! Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ (Röm 13,8). Die Freiheit, die Paulus verkündet, ist nicht die Autonomie oder Unabhängigkeit, sondern die Freiheit, die sich in der gegenseitigen Verpflichtung zur Liebe vollzieht. Für Paulus ist unser Streben nach einer individuellen Autonomie selbst eine versklavende Illusion. Denn wir sind und sollen nur frei sein, wenn wir durch die Beziehung zu Gott und zu anderen geformt werden. Gott ist in der Welt, in der Schöpfung und in der Neuschöpfung machtvoll tätig, und die menschliche Gotteserkenntnis ist ein Akt des Vertrauens, der zugleich eine Form der Unterwerfung ist („Glaubensgehorsam“, Röm 1,5). Gottes Heilswirken in Jesus Christus anzuerkennen, heißt zu sagen: „Jesus ist der Herr“ (griech. kyrios, d.h. Herr). Die Erfüllung des menschlichen Potenzials wird nicht durch die eingebildete Freiheit eines unabhängigen Selbst erfolgen, sond. durch die Unterwerfung unter die Auferstehungskraft Jesu, wenn sich jedes Knie beugen und jede Zunge bekennen wird, dass Jesus Christus der Herr ist (Phil 2,11). Erst dann wird „die Schöpfung von ihrer Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit“ (Röm 8,21). Erst dann wird der Mensch seine endgültige Erfüllung erreichen, und Christus wird „unseren geringen Leib verwandeln, dass er gleich werde seinem verherrlichten Leibe nach der Kraft, mit der er sich alle Dinge untertan machen kann“ (Phil 3,21). Die wahre Freiheit von allem, was die menschl. Vollkommenheit einschränkt, einschließlich Krankheit, Leiden und Tod, ist nur möglich, weil der „Herr“ (kyrios) Jesus mächtiger ist als alle Kräfte, die unsere Entfaltung einschränken und begrenzen. Diese Kräfte sind größer, als wir oft denken. Es sind soziale und kulturelle Kräfte, die unsere Weltanschauungen formen und unsere Vorstellungskraft einschränken; es sind
politische Kräfte, die (jetzt mit noch größerem Erfolg) unsere Bewegungen überwachen
und kontrollieren. Vor allem sind sie unsere erschreckende Neigung zu Grausamkeit, Gleichgültigkeit, Vorurteilen, Unvernunft u. Egoismus, die Paulus einfach als „Sünde“
bezeichnet. Darüber hinaus sind es unsere körperliche Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit, die Paulus „Verfall“ und „Tod“ nennt. Er stellt die Welt als ein kosmisches Schlachtfeld dar, in das wir verstrickt sind, ob wir es erkennen oder nicht. Das Handeln Gottes in Jesus ist ein liebevoller Akt der Befreiung von Besatzungsmächten. Jesus, dessen Auferstehung einen Weg durch den Tod sprengte, macht sich alles untertan, was unser Potenzial zur Entfaltung
verdirbt und hemmt (1 Kor 15,20–28). Wir werden die Freiheit nicht in unserer eigenen kümmerlichen Kraft finden, sond. indem wir uns in das siegreiche Voranschreiten „des Herrn“ einreihen. Dieser Marsch in die Freiheit, im Vertrauen auf die Sicherheit der Liebe Gottes, befreit uns bereits von der Selbstbezogenheit und der Unsicherheit, die die Wurzel der menschlichen „Sünde“ sind. „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). Das Thema der Freiheit zieht sich durch mehrere Briefe des Paulus, nirgends aber so stark wie in seinem Brief an die Galater. Hier wehrt er sich gegen das, was er den „Zwang“ derer nennt, die versuchen, den Christen bestimmte religiöse und kulturelle Praktiken aufzuzwingen, als ob dies die einzige Möglichkeit wäre, zu Christus zu gehören. Es geht um die Forderung konkurrierender Missionare, dass sich männliche Gläubige nach dem jüdischen Gesetz beschneiden lassen sollen, wodurch „die Freiheit, die wir in Christus Jesus haben“ (Gal 2,4; 6,12), eingeschränkt wird. Paulus lehnt nicht das „Judentum“ als solches ab,
sondern den Versuch, die christliche Identität in die Begrenzungen einer soziokulturellen Tradition zu zwängen. Diese Gnade bewirkt die Freiheit, alle sozialen u. kulturellen Werte, zu überdenken und neu zu gestalten, und zwar mit einer radikalen Frische, die Paulus als „neue Schöpfung“ bezeichnet (Gal 6,15). Der Zweck dieser Freiheit ist, die Möglichkeit neue, Grenzen überschreitende Gemeinschaften zu schaffen, die Vorurteile, Diskrimi-
nierung und Angst überschreiten und neue Formen der Zugehörigkeit bieten:
„Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein
etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6)…
Die Freiheit zu lieben ist die Freiheit, Zugehörigkeit zu empfangen, anzubieten und zu
teilen, und damit auch die Freiheit, Verpflichtungen einzugehen. Diese Liebe ist nun
„ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Sie drückt sich in Bindungen der Hingabe, des Vertrauens, der Treue und der Geduld
gegenüber anderen aus. Die Liebe erfüllt unsere tiefsten Bedürfnisse und Sehnsüchte
nicht durch Isolation, sondern durch unser Zusammenleben mit anderen. Wie in Luthers brillanter Schrift Die Freiheit eines Christenmenschen (immer noch eine unverzichtbare Lektüre für jeden nachdenklichen Christen) heißt es, dass wir Sklaven der anderen
sein können, weil wir frei von Selbstsucht sind, gesichert durch die Liebe Gottes
(1 Kor 9,19). Aber was bedeutete das alles für diejenigen, die tatsächlich versklavt waren?
Paulus begegnete vielen Sklaven innerhalb und außerhalb seiner Gemeinden, am bekanntesten ist Onesimus, der ihn wahrscheinlich bat, einen Appell an seinen Besitzer Philemon zu richten, und der daraufhin Christ wurde (siehe das kleine Juwel, den Brief des Paulus
an Philemon). Für Paulus hat jeder, ob Sklave oder Freier, den unermesslichen Wert, von Christus geliebt zu werden, der für alle gestorben ist (2 Kor 5,14–15). Für ihn waren die Sklaven keine bloßen „Dinge“ (das Eigentum ihrer Besitzer); es war möglich, sie auf eine ganz andere Weise zu sehen (nicht mehr „vom menschlichen Standpunkt aus“, 2 Kor 5,16). Diejenigen, die zu Christus gehörten (wie der neue Onesimus), waren „eine neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17), Nutznießer des befreienden Handelns Christi u. mit einer Identität und einem Wert ausgestattet, der dem jedes freien Mannes oder jeder freien Frau entspricht (Gal 3,28; 1 Kor 12,13). Da Christus die tiefste und bedeutungsvollste Neuordnung der Macht im Universum bewirkt hatte, war die Frage, wer zu Christus gehörte, letztlich wichtiger als jede Form der menschlichen Zugehörigkeit. „Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden“, sagt Paulus zu allen Gläubigen in Korinth (1 Kor 6,20; 7,23). Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Christus sie aus den zerstörerischen Formen der Versklavung herausgekauft, welche die menschliche Entfaltung behindern, und sie in eine neue Form der Bindung („Versklavung“) versetzt, in der sie all das werden können, wozu sie bestimmt sind. So kann Paulus sagen: „Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelas-
sener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi“ (1 Kor 7,22). Niemand in diesem Bild ist frei im Sinne unserer Vorstellung von individueller Autonomie, denn nach Paulus’ Auffassung ist ein solcher Zustand nicht möglich. Jeder befindet sich in der einen Form der Sklaverei (der Sünde und dem Tod) oder einer anderen (der Gerechtigkeit und dem Leben, Röm 6,15–23). Die Frage ist nur, wen man „Herr“ nennt.
Doch wie steht es um ihr menschliches Wohlergehen? Die Sklaverei konnte äußerst grausam sein: Sklavenfamilien wurden beim Verkauf einzelner Mitglieder auseinandergerissen, und Sklaven konnten einer unmenschlichen Behandlung, einschließlich sexuellem Missbrauch, ausgesetzt sein. Die meisten Sklaven wünschten, freigelassen zu werden, so sie
eine Möglichkeit hatten ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Besitzer waren
oft bereit, dies zu gewähren, solange jemand für sie bezahlte. Worum bittet Paulus?
Im Fall von Onesimus, den sein Besitzer als „nutzlos“ betrachtete und möglicherweise
androhte, ihn zu verkaufen (Phlm 11), bittet Paulus darum, dass er „für immer“ (d. h. nicht verkauft) aufgenommen wird, „nicht mehr als Sklave, sondern als weit mehr: als geliebter Bruder“ (Phlm 15–16). Dies ist keine eindeutige Aufforderung zur Freilassung, sondern zu einer qualitativ anderen Behandlung von Onesimus, sowohl im Haushalt Philemons
als auch in der weiteren christlichen Gemeinschaft, die sich dort trifft (Phlm 1–3).
Paulus stellt die Beziehung zwischen Onesimus u. Philemon auf eine neue, fundamentale Ebene, wodurch eine Freilassung viel wahrscheinlicher wird. An anderer Stelle ermutigt Paulus die Sklaven, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, wenn sie ihnen angeboten wird (die beste Übersetzung von 1. Korinther 7,21, darin sind sich die meisten Gelehrten heute einig), und er ist der Ansicht, dass Freiheit eine bessere Voraussetzung für den Dienst an Christus ist als Sklaverei (1. Kor 7,23: „Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden; Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen“). Wir müssen akzeptieren, dass Paulus nicht zur Abschaffung der Sklaverei aufrief. Man könnte pragmatische Erklärungen anbieten (wirtschaftlich undenkbar, zu radikal), die grundlegende Erklärung ist wahrscheinlich
folgende: Paulus sah das Besitzen eines Menschens nicht als grundsätzliches Unrecht an, wie wir es heute tun. Der Unterschied ist auf einen grundlegenden Wandel im modernen westlichen Denken in Bezug auf Menschenrechte zurückzuführen. Würden wir Paulus’
Begriffe weiterentwickeln, so bestünde das Problem der Sklaverei nicht darin, dass sie
Autonomie verwehrt, sondern dass sie die Fähigkeit, Gott und anderen in Liebe zu dienen, einschränkt oder verhindert. Sklaven sind nicht frei sich für andere oder für Gott einzusetzen. Sie sind auch dem Risiko einer Behandlung ausgesetzt, die der Liebe zuwiderläuft, aber aufgrund der gesetzlichen Rechte der Eigentümer an ihrem „Eigentum“ nicht wirksam angefochten werden kann. Paulus sah das nicht so klar wie wir heute, und leider sind seine Briefe dazu benutzt worden, neuere Formen der Sklaverei ebenso zu verteidigen wie zu
kritisieren. An diesem Punkt müssten wir ausdrücklich sowohl mit Paulus als auch über
ihn hinaus Stellung beziehen: mit ihm, indem wir auf die Freiheit drängen, die menschliche
Erfüllung ohne die falsche Erwartung von Autonomie bringt, aber über ihn hinaus, indem
wir die Sklaverei an sich als ein grundlegendes Hindernis für diese Möglichkeit sehen.
Für Paulus ist Freiheit mehr als etwas „Spirituelles“ oder „Inneres“, wie viele moderne
Formen des Christentums es darstellen. Für ihn geht es um die von Gott geschenkte
Befreiung v. allem, was unser menschliches Potenzial als Geschöpfe Gottes hemmt und untergräbt, und damit von den vielfältigen Zwängen, denen wir unterliegen, von zwanghaftem Verhalten bis zum Tod selbst und all den verschiedenen Formen von
Unfreiheit dazwischen. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, und zwar auf allen
Ebenen unseres Seins. Aber ironischerweise wird unsere Freiheit nicht durch Selbstbestimmung erlangt und erfahren, sondern durch unsere Ausrichtung auf die befreiende Macht eines anderen, Christus, und durch unser Eintauchen in die gelebte Liebe, die uns in Verpflichtung und Gemeinschaft aneinander binden. In unserer Freiheit zu lieben gehen wir in Resonanz mit der transzendenten Liebe, die uns in Christus begegnet. Diese göttliche Liebe ruft uns dazu auf, die Melodie der gegenseitigen, hingebungsvollen, sich selbst verschenkenden Liebe zu singen, eine Melodie, die die endgültige Befreiung des Universums vorhersagt. Aufgrund dieser tiefen Resonanz mit der ewigen Wahrheit erweist sich dieses Lied der Freiheit in der Liebe als größer als alle anderen Lieder der Befreiung, die im Laufe der
Geschichte überliefert wurden. Unzählige Leben auf der ganzen Welt singen es heute,
unvollendet, aber kraftvoll. „Hörst du, wie das Volk erklingt?“ (Les Misérables).