Leonhard Ragaz, Die Bibel eine Deutung
Die Geschichte Israels Die Propheten
II: Die Richterzeit. Unmittelbar unter Gott
2. DAS GOTTESRECHT
Denn es ist ja die Zeit der Richter. Israel hat keinen König, aber es hat Richter. Was bedeutet der Richter? Er bedeutet zunächst Führer. Aber nun nicht mehr wie unter Moses und Josua den Führer, sondern einen Führer. Denn nun waltet das, was wir mit einem modernen Ausdruck föderalistische Demokratie nennen können. Jeder der zwölf Stämme führt frei sein Eigenleben. Verbunden sind sie bloß durch ihren Gott. In Freiheit. Es ist eine freie Volks-Genossenschaft, eine Eid-Genossenschaft. Sie baut sich ganz von unten auf. Jeder Volksgenosse sitzt frei auf seinem eigenen Grund und Boden – nur unter Gott. Dann kommt die Familie. Sie ordnet – unter Gott – am stärksten das Leben der Gemeinschaft. Aus Familien baut sich der Stamm auf. Und aus den Stämmen die Volks-Genossenschaft.
Mit immer weniger Bindungsmacht in dem Maße, als es nach oben geht – umgekehrt als im staatlichen Wesen! – zuletzt nur mit Gott als Bindung, der stärksten Bindung, die es gibt. Es ist die Gottesherrschaft der Freiheit; es ist die Theokratie als Anarchismus Gottes. Aus dieser Freiheit taucht, von Gott aus, der Richter als Führer auf. Es kommen, wie wir schon wiederholt gezeigt haben, Zeiten, wo es ohne solche besondere Führung nicht geht, Zeiten innerer oder äußerer Zerrüttung und Gefährdung. Aber es entsteht dann eine freie Führung, eine Führung, die ihre Autorität von Gott allein hat, die auch nicht einmal gewählt ist, sondern einfach anerkannt wird, einfach sich von selbst durchsetzt. Es tritt dann immer wieder jenes Wunder ein, das in dem Worte zum Ausdruck kommt: „Der Geist Gottes kam über ihn“. (Vgl. z. B. Kap. 3, 10.) Es kommt Feuer vom Altar; es bricht aus dem Sinn Israels, der Gott selber ist, die Kraft der Rettung auf. Und das geschieht, weil das Volk unmittelbar unter Gott steht. Nur so ist ja echtes Führertum möglich. Die Verstaatlichung zermürbt die Menschen, entselbstet sie, schaltet sie gleich. Da gibt es, als Frucht der Willkür, die an die Stelle der Freiheit getreten ist, bloß noch Demagogie.
Aus dieser Auflösung der Volksfreiheit unter Gott durch den Staat erhebt sich die Diktatur. Nur aus der Freiheit, der Freiheit unter Gott, entsteht echte Führung. Wenn so der Richter der Führer ist, so der Führer der Richter. Und auch das ist bedeutsam. Dieser Anarchismus steht unter Gottes Recht und ist nur so möglich. Dieses Recht verwaltet der Richter. Von Gott aus, in Freiheit. Es ist die Atmosphäre, welche über dem Volke waltet und sich den Gemütern als Wahrheit unmittelbar kund tut. Wir stoßen damit wieder auf das Gottesrecht, das über dem bürgerlichen Recht und allem geschriebenen Rechte steht. Es ist, wenn man das Wort richtig verstehen will, das Naturrecht, das heißt, das Recht, das so unmittelbar aus Gott strömt wie Licht und Luft uns in der Natur umgeben, und das darum dem Gewissen unmittelbar einleuchtet; das Recht, das von Gottes Hand selbst in die Herzen geschrieben ist. (Vgl. Jeremia 31, 31 ff. und 5 . Mosis 30, 11-14.) Dieses Gottesrecht ist darum auch Volksrecht. Es ist das, was das Volk als Recht versteht und billigt. Es sind die elementaren Formen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Wie oft werden sie durch das geschriebene Recht vergewaltigt. Wie oft steht dieses Recht gegen das Volk, entweder weil es den Mächtigen dient, oder weil es zu kompliziert und lebensfremd ist, um vom Volke verstanden und innerlich anerkannt zu werden. Dann muß eine revolutionäre Erhebung das ursprüngliche Recht wieder zur Geltung bringen, die „Menschenrechte“ verkündigen, oder die Völker verkommen unter der Herrschaft des Unrechtes. Die Völker leben von dem Rechte Gottes, das in der Freiheit Gottes über ihnen waltet. Alles von Menschen geschaffene Recht hat selbst nur ein Recht, soweit es von diesem Rechte stammt und in seinem Geiste gehandhabt wird. Dieses lebt selbst aber nur in dieser Freiheit unmittelbar unter Gott. Heben wir noch einen äußerst bedeutsamen Zug dieses heiligen Anarchismus hervor. Man verbindet gewöhnlich das Recht mit dem Staate, und zwar in dem Sinne, daß es kein Recht gebe ohne den Staat und der Staat die Quelle des Rechtes sei. Aber an dieser hochbedeutsamen, an dieser entscheidenden Stelle der Geschichte erkennen wir, daß diese Annahme nicht richtig ist. Das Recht kann unabhängig vom Staate leben. Das Richtertum bedeutet keinen Staat. Nicht schafft der Staat das Recht, er verwaltet es höchstens, sondern das Recht schafft allfällig den Staat. Und es besteht immer die große Gefahr, daß der Staat das Recht verderbe. Das wahre Recht, das Gottes- und Volksrecht, gedeiht am besten in der Freiheit unter Gott. Das bleibt der ewig gültige Sinn des Anarchismus der Richterzeit, unmittelbar unter Gott allein. Soli Deo gloria! Fügen wir noch Eins hinzu: Diese Führer und Richter, oder Richter und Führer, markieren genau das, was wir als den Weg des Lebens für Israel, und alle Völker und Menschen, kennen gelernt haben. Sie bringen in Zeiten des Abfalls und der daraus entstehenden Not Israel wieder zu sich selbst. Immer wieder wird dieser Zusammenhang betont. (Vgl. z. B. 2, 1 ff.; 2, 10 ff.) Sie treten im Namen Jahves gegen Baal auf und bringen den Sinn Israels wieder zur Geltung. Damit retten sie es vor dem inneren und äußeren Verderben. Sie sind auf ihre Art das, was später auf andere Art die Propheten sind: der Einzelne, der von Gott aus das Volk aufweckt, zurechtbringt und rettet. Verfolgen wir nun unter diesem Gesichtspunkt das Auftreten und Walten der wichtigsten Richter, von denen uns der biblische Bericht meldet.