Die gottentfremdende Traurigkeit

Hildegard Strickerschmidt

Die gottentfremdende Traurigkeit

Sinnlosigkeit, Resignation, Depression –
Welche Antwort gibt Hildegard von Bingen?

Traurigkeiten, depressive Verstimmungen, Resignation, das Leiden an der Sinnlosigkeit
des Lebens – sind das nicht vorherrschende Gemütszustände des heutigen Menschen?
Ein auffallendes Phänomen ist die Tatsache, daß in den hochentwickelten Industrieländern die depressiven Erkrankungen sprunghaft gestiegen sind. Demgegenüber sehen wir die
Gesichter aus der sog. „Dritten Welt“, die trotz Armut – soweit sie nicht am Verhungern oder gequält und ausgebeutet sind – fröhlich und hoffnungsvoll dreinblicken.

Mir fällt in meinen Seminaren und Vorträgen immer stärker auf, wie bedrückt viele Menschen sind, und das, obwohl wir eines der reichsten Völker der Erde sind, unsere Kaufhäuser von Waren überquellen, die medizinische und soziale Versorgung noch nie so gut war wie zu unserer Zeit. Die Zahl der Millionäre hat beständig zugenommen, und nur wenige Völker können sich so kostspielige Urlaubsreisen leisten wie wir. Und doch fiihlen sich
viele Menschen unglücklich und leiden an depressiven Verstimmungen.

Depression wird bezeichnet als der Zustand der – Losigkeiten: antriebslos, freudlos, lustlos, schlaflos, appetitlos, hoffnungslos, sinnlos. Wenn ich auch in dieser kleinen Broschüre nicht die Pathologie der Depressionen, also die Depression als Krankheit, behandeln kann und will, so trifft der beschriebene Zustand auch auf die sog. depressive Verstimmung zu, von der jeder Mensch betroffen werden kann. Viele Menschen, die ein durchaus normales Leben fuhren, äußerlich unauffällig sind, ihren täglichen Verpflichtungen nachkommen, können von solchen Stimmungen stark beeinträchtigt werden.

Weithin wird dieser Zustand – auch von Ärzten – behandelt mit Medikamenten, mit Psychopharmaka, Beruhigungsmitteln (Tranquilizern), Antidepressiva, Schmerz– und Schlafmitteln, deren Verbrauch, wie immer wieder zu lesen ist, ständig steigt. Bereits Kinder werden mit Medikamenten ruhig gestellt. Die modeme Schulmedizin hat als Kind der exakten Naturwissenschaften nur die Möglichkeit, das äußerlich sichtbare Symptom zu bekämpfen, ohne die innere, geistig-seelische Ursache zu suchen und anzugehen. Oft ist dieser Weg
eine Flucht, der Weg in die Sucht, in die Medikamenten- und Drogenabhängigkeit,
nicht selten begleitet von Alkoholismus.

Ich möchte den Versuch unternehmen, dieses Phänomen von der psychotherapeu-
tischen und geistig-religiösen Seite her unter Einbeziehung der Gedanken Hildegards
von Bingen zu bearbeiten.

In einigen psychotherapeutischen Schulen unserer Zeit gibt es hierfiir brauchbare Ansätze, wie z.B. bei Viktor Frankl, der in seiner Logotherapie die Frage nachdem Sinn in das
therapeutische Konzept aufgenommen hat.

Einen Schritt weiter geht Karlfried Graf Dürckheim, der die Bedeutung der religiösen
Dimension für die Bearbeitung der Lebensprobleme aufgreift. „Die religiöse Bodenlosigkeit des heutigen Menschen ist die eigentliche Wurzel für sein Nicht-Heil-Sein, und wenn eine Therapie nicht von der Einsicht in solche Heil-losig- keiten ausgeht, kann kein Heil-Werden im Sinne echter Individuation (Entfaltung der vollen Persönlichkeit) erfolgen, sondern
immer nur Symptom- oder Partialheilung (teilweise Heilung) erzielt werden.“
(Aus: Heilung aus dem Ursprung von Gisela Schöller, S. 32)

Für Graf Dürckheim leidet der Mensch nicht an seinen Symptomen (äußere Krankheitszeichen) sondern letztlich an der Trennung von seiner ureigentlichen Heimat, von seinem tiefsten Zuhause, ohne sich dessen bewußt zu sein. (a.a.O. S. 31)

Religion meint Rückbindung an etwas Größeres, etwas mich Übersteigendes, eine höhere Macht, von der ich abhängig bin. Es ist der Bereich, der die sinnenhafte Erfahrung übersteigt, die sog. Transzendenz, die hinter allem Sichtbaren verborgen wirkt.

Der heutige Mensch spürt ein starkes geistiges Mangelerlebnis, er hat einen spirituellen Hunger, weil die herrschende Denkweise des Materialismus und Atheismus viele wesentliche Fragen des menschlichen Lebens unerfiillt läßt. Die vordergründigen Realitäten wie
Besitz, Ehre, Vergnügen, Karriere füllen den Menschen nicht aus, sind von ständigem Entschwinden bedroht. Das Glück wird in einer „angestrengten Diesseitigkeit (P.M.Zulehner) gesucht, vergeblich gesucht. Die Sucht nach immer mehr versetzt den Menschen in einen krankmachenden Streß. So tritt der Mensch die Flucht an: die Flucht in das Magische, in den Okkultismus, in Psycho- Trips. In den verschiedensten Heils-Lehren wird eine Sprengung der eigenen Ich-Grenzen verheißen; der Griff zu den Sternen und die Verschmelzung mit dem All-Geist des Kosmos versprechen Erlösung und Glück. Im Zeitalter der Post-Moderne haben esoterische Heilslehren aus dem ostasiatischen Raum Hochkonjunktur.
Sie treffen auf ein Vakuum, das sicher auch durch die bisher übliche Praxis der Kirchen
geschaffen wurde.

So sind selbst viele Christen verunsichert und fasziniert von diesen neuen
Strömungen. Ich frage mich immer wieder, warum die Botschaft vom menschgewordenen Gott in Jesus Christus, der sich mit uns Menschen identifiziert hat, der unser Leid mitgelitten hat und durch den Tod hindurch die Hoffnung auf die unendliche Liebe Gottes gebracht hat, heute so wenig Wirksamkeit entfaltet. Selbst die Kirchen scheinen stark verunsichert zu sein und trauen ihrem Gott nicht mehr so viel Kraft zu, daß er Hilfe bieten kann, zumal das Thema „Heilung aus dem Glauben“ schon lange Zeit aus der Verkündigung ausgeklammert ist, obwohl der Auftrag Jesu lautet: Verkündet das Evangelium und heilt die Kranken. Der Bereich der Heilung wurde ausschließlich den atheistischen und materialistischen Naturwissenschaften überlassen.

In dieser Situation wird in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren immer häufiger der Name einer Frau genannt, die eine ganzheitliche Sicht des Menschen und seines Lebens hat, wie sie sonst nicht gefunden wird. Ich spreche von

Hildegard von Bingen

der Frau aus dem frühen Mittelalter, die viele Jahrhunderte lang fast völlig
vergessen war und heute eine Renaissance erlebt, die nur durch die Aktualität ihrer
Aussagen erklärt werden kann.

Obwohl sie vor mehr als 800 Jahren lebte (1098 -1179) konnte sie aufgrund ihrer seherischen, mystischen Begabung die tiefen Zusammenhänge zwischen Gott, Welt und Mensch erkennen, die uns moderne Menschen so sehr erstaunen und unsere brennenden Fragen beantworten.

Hildegard v. B. wird bezeichnet als die erste deutsche Ärztin und Naturforscherin, als Theologin, Dichterin, Komponistin und Politikerin. Sie war bereits zu ihrer Zeit hoch verehrt und hatte Einfluß auf viele führende Männer in Politik und Kirche. Als Benediktinerin und Äbtissin gründete sie zwei Klöster und schrieb in theologischen und heilkundlichen Büchern nieder, was sie in ihrer ‚inneren Schau‘ erfuhr.

Das Faszinierende an ihrem Werk ist die Geschlossenheit des Weltbildes, in dem alles aufeinander bezogen, alles miteinander verknüpft ist: die Natur, der Mensch mit Leib und Seele und Gott als der Ursprung des Lebens und der Alles-Durchdringende, der in Jesus Christus Mensch wurde. ER ist das Wort Gottes, das uns den Weg weist und durch Leiden und Auferstehung zum ewigen Leben in Gott befreit.

Hildegard v.B. hatte tiefe Einsichten in den leidverhafteten Zustand des Menschen,
sie wußte aber auch um die vielen, allerdings oft mühsamen Wege, die daraus herausführen.

Die gottentfremdende Traurigkeit

Dieses Wort der hl. Hildegard hat mich sehr bewegt und veranlaßt, bei ihr nachzusehen, wie sie diesen Zustand erfährt, und welche Antworten sie uns auf unsere bedrängenden Fragen zu geben hat.

Dieses Wort von der ‚gottentfremdenden Traurigkeit‘ trifft m.E. genau den Zustand der
depressiven Verstimmung, dieses dunklen Loches, das uns gefangenhält: Wir fiihlen uns unlebendig, eingeschlossen in uns selbst, unfähig zu handeln, niedergeschlagen, kalt und verhärtet, verzweifelt, fern von Gott, dem Leben, der Freude und der Liebe.

Dieser Zustand der Verzweiflung, der Niedergeschlagenheit und der ‚Verhärtung des
Herzens‘ ist – wie auch die modeme Psychologie betont – etwas gänzlich anderes als das
Gefühl der Traurigkeit, das uns überkommt bei Verlusten, Versagungen, Verletzungen.
Gefühle lassen sich nicht befehlen, sie sind einfach da; sie lassen uns aber auch erfahren, daß wir lebendig sind, daß wir uns bewegen lassen können, innerlich bewegt sind, ganz gleich, ob es die Gefühle der Freude oder der Trauer sind.
Dies nennt H.v.B. die ‚Traurigkeit mit Tränenströmen‘, die eine Frucht des Heiligen Geistes ist. Hierbei wird das Erdreich unserer Seele in der Erschütterung aufgerissen, damit der
Same der Liebe Gottes hineinfallen und neue Frucht bringen kann.

In der depressiven Verstimmung, in der Niedergeschlagenheit und Resignation aber
hat sich diese Traurigkeit mit Hader, Groll, Bitterkeit und Wut verbündet und verhärtet.
Der Mensch wird nicht mehr von einem lebendigen Gefühl bewegt sondern befindet
sich in einem Zustand der Erstarrung und Kälte.

Es ist auch mit der hl. Hildegard nicht leicht, diese lebentötende Mauer aufzubrechen oder gar einzureißen, diese Mauer, die den Menschen im Kern seiner Persönlichkeit krank und unglücklich macht, ihn von seiner Mitwelt und von Gott abtrennt und isoliert.

Letztlich stellt sich hier die Frage nach der Erfüllung, nach dem Sinn unseres Lebens,
die in diesem Zustand nur noch negativ beantwortet werden kann.

Rätselhafte menschliche Existenz

Seit Menschen auf der Erde leben, stellen sie sich die Frage nach ihrem Woher, Wozu und Wohin. Wozu bin ich überhaupt hier auf dieser Erde? Wo komme ich her und wo gehe ich hin? Warum ist das Glück so flüchtig und das Leid oft so bedrückend?

Um nicht zu kurz zu greifen bei der Suche nach möglichen Antworten, frage ich bei H.v.B., dem Menschen, der die Geheimnisse Gottes schauen durfte, was sie uns über die ursprüngliche Bestimmung des Menschen sagt:

,,Als Gott dem Menschen ins Angesicht schaute, gefiel er ihm sehr gut. Hatte er ihn doch nach seinem Bildnis und Ihm ähnlich erschaffen! Der Mensch sollte mit dem Instrument seiner vernünftigen Stimme alle Wunderwerke Gottes verkündigen. Denn der Mensch ist das volle Werk Gottes. Gott wird vom Menschen erkannt, und um des Menschen willen hat Gott alle Geschöpfe erschaffen. Ihm hat er gestattet, im Kuß der wahren Liebe durch seine Geistigkeit Gott zu preisen und zu loben.“ (WM S .. 164)

Spüren wir nicht bei diesen Worten ganz leise eine Saite unserer Seele erklingen in einer verschütteten Tiefe: eine Hoffnung, eine Sehnsucht, eine Ahnung?

Wie aber läßt sich dies in unserem Leben unterbringen, wie läßt es sich mit unseren dunklen und leidvollen Erfahrungen vereinbaren?

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen suchten Menschen nach einer Lösung dieses Rätsels.

Die Antwort der hl. Hildegard interpretiert die Aussagen der Heiligen Schrift, da sie, wie sie selbst sagt, durch ihre Visionen den inneren Sinn der Hl. Schriften erfährt:

Durch das Herausfallen aus der göttlichen Ordnung, die eine Ordnung der Liebe ist, durch den Weg der Eigenmächtigkeit, der Omnipotenz, des Hochmuts, alles allein und ohne Rücksicht auf die Lebensgesetze tun zu können und zu dürfen, stürzte der Mensch und mit
ihm der ganze Kosmos in das ‚undurchdringliche Dunkel‘, aus dem er sich selbst aus eigener Kraft nicht mehr erheben kann.

Hören wir dazu Hildegards Worte:

,,Als Adam (d.i. der Erdling, der Mensch als solcher) das Gute erkannte und doch das Böse tat, da erhob sich im Wechsel dieser Umwandlung in seinem Organismus die Schwarzgalle, die Melancholie. Traurigkeit und Verzweiflung aber erwachsen erst aus dieser Melancholie, die Adam bei seiner Übertretung empfand; … dies geschah so, wie die Helligkeit schwindet, sobald das Licht ausgelöscht wird, und wie dann nur noch der glimmende Docht mit seinem Gestank zurückbleibt… Denn der Teufel blies bei Adams Fall die Melancholie
in ihm zusammen, durch die er den Menschen bisweilen so zweifelsüchtig und wankelmütig macht… So verfällt der Mensch in dieser Traurigkeit oft der Verzweiflung, und er will nicht mehr glauben, daß Gott noch ein Auge auf ihn hat…

Die Verführungskunst des Teufels windet sich oft gerade in diese Melancholie hinein und macht den Menschen trübsinnig und verzweifelt, so daß viele Menschen sich in der Verzweiflung ersticken und aufreiben, viele sich aber so heftig gegen dieses Übel wehren,
daß sie wie Märtyrer aus diesem Kampf hervorgehen … Wer aber wachend oder schlafend geplagt wird „soll das Heilmittel suchen, welches von Gott dagegen verordnet wird …“ (H.S.220)

Wir haben hier die ganz klare Aussage, daß wir hineingeboren sind in diese gebrochene Existenzweise – unsere Kirche spricht von Erbschuld- mit der Grundbefindlichkeit der
Melancholie, aus welcher Traurigkeit und Verzweiflung erwachsen. Aus der Traurigkeit aber entsteht der Zorn: „Und so haben sich die Menschen vom ersten Elternpaar her die Traurigkeit und den Zorn sowie sonstige schädliche Affekte zugezogen.“ (H.S.220)

Ist das nicht ein Grund zum Zornig-Werden, in eine gebrochene, verfluchte Existenzweise hineingeboren zu werden ohne gefragt zu sein? Die Sünden meiner Väter und Vorväter
ausbaden zu müssen, mit denen ich nichts zu tun habe und nichts zu tun haben will?

Hildegard schaut die Klage einer Seele: „Gott, hast du mich nicht erschaffen?
Gemeine Erde drückt mich nieder.“ Soll ich fliehen? Wenn in meinem Leibe die fleischliche Begierde sich regt, (z.B. Hochmut, Stolz, Unmäßigkeit, Haß, Zorn, Lüge, Wollust, Schlemmerei, Streitsucht, Gottlosigkeit, Verzweiflung, Hartherzigkeit usw.) flößt sie mir die Lust zum bösen Werke ein, und ich vollbringe es. Aber die Vernunft und das Wissen, die in mir lebendig sind, erinnern mich, daß ich von Gott geschaffen bin… So fliehe ich furchtsam das Angesicht meines Gottes …

Weh mir Irrenden!… Viele Stürme erheben sich in mir und sprechen mit lügenhaften
Stimmen: Wer bist du? Wohin wirst du noch geraten? .. Was dich erfreut, das ist dir nicht
erlaubt, und was dich ängstigt, dazu treibt das Gebot Gottes dich an. Und woher weißt du, daß das wirklich so ist? Besser wäre es dir, du wärest nicht! (Sc.S.124)

Wem von uns kommt diese ausweglose Verzweiflung, das dunkle Loch einer sinnlosen
Existenz, nicht bekannt vor? Ich glaube, irgendwann macht sie jeder Mensch in seinem
Leben einmal durch. Fast nicht durchzuhalten ist es aber, wenn solche Situationen
häufiger auftreten oder gar als Lebensgrundstimmung ein dauernder Begleiter sind.

Hören wir den Hildegard-Text weiter: „Doch wie all diese Stürme so in mir toben, beginne ich einen neuen Weg zu wandeln, der meinem Fleische (meiner Bequemlichkeit, meiner Nachlässigkeit, meinen schlechten Gewohnheiten) beschwerlich ist. Ich fange an, die Gerechtigkeit zu üben. Aber dann packt mich wieder der Zweifel, ob das vom Heiligen Geiste sei oder nicht, und ich spreche: ‚Es ist unnütz!‘ Und dann will ich über die Wolken fliegen, d.h. ich will über das vernünftige Maß hinausgehen und das beginnen, was ich nicht vollenden kann. Aber durch diesen Versuch rufe ich eine übergroße Traurigkeit in mir hervor, so daß ich weder auf dem Berge der Heiligkeit noch in der Ebene des guten Willens irgend
etwas zustande bringe, sondern nur die Unruhe des Zweifels, der Hoff- nungslosigkeit, der Trauer und gänzlicher Niedergeschlagenheit in mir fiihle … Und auch noch die Bosheit
erhebt sich wider mich, daß alles Glück und alles Gute, das in Gott oder den Menschen ist, mir zur schweren Last wird, mir mehr den Tod als das Leben in Aussicht stellt. Weh mir!
Alles Glück ist mir geraubt.“ (Sc.S.125)

Wir haben hier eine erschütternde Beschreibung, wie ein Mensch sich müht, dieser schier unüberwindlichen Verzweiflung Herr zu werden. Dieser Kampf scheint oft aussichtslos.

Hildegard v.B. hört die Seele weiter klagen: „Doch woher das Übel solcher Irrtümer?
Die alte Schlange ist voll Schlauheit … sie flößt mir den trotzigen Mut zur Sünde ein.
Sie lenkt meine Erkenntnis ab von der Furcht des Herrn, so daß ich mich nicht scheue,
das Böse zu tun, da ich mir sage: ‚Wer ist denn Gott? Ich weiß nicht, wer Gott ist.‘
Ihre trügerische List treibt mich zur Verstocktheit, so daß ich hart werde in der Sünde.
Das mörderische Gift ihrer Bosheit raubt mir alle geistliche Freude, so daß ich weder am Menschen noch an Gott mehr froh werden kann, und so stürzt sie mich endlich in den Zwiespalt der Verzweiflung, da ich nicht mehr weiß, ob ich gerettet werden kann oder nicht.“ (Sc.S.125)

An dieser Stelle wird die geistig-religiöse Dimension dieser menschlichen Tragödie
aufgezeigt. Der Mensch befindet sich am Scheideweg der wichtigsten Entscheidung:
Gibt es einen Gott, der mich liebt, der mich aber auch in die Verantwortung für mein
Tun ruft oder ist für mich bereits alles zu spät?

Was bedeutet dieser Hildegard-Text für unser Leben?

Wir sehen, wie vielschichtig und verworren die Ursachen, die Ausformungen und die
Folgen dieser gottentfremdenden Traurigkeit sind.

1. Wir sind hineingeboren in die Melancholie.

Wenn wir uns selbst und unser Leben ehrlich betrachten, werden wir zugeben müssen,
daß der Zug zur Unzufriedenheit, zur Traurigkeit, zum Klagen, sehr mächtig ist. Schon das Neugeborene weint und schreit, wenn es das Licht dieser Welt erblickt. Das erste Lächeln kommt frühestens nach 6 Wochen und auch dann nur, wenn eine sog. ‚Urhaftung‘ an eine vertraute Person gewachsen ist. Es bedarf also eines liebenden Menschen, um diesem Grundzug zur Melancholie die Freude zu entlocken.

Wir müssen bewußt diesem Zug zum Dunklen entgegenwirken, um in unserem Leben
und im Leben unserer Mitmenschen Freude, Zufriedenheit und Liebe wachsen zu lassen.

H.v.B. sagt sogar, daß bei der Abkehr des Menschen von Gott, als er das Gute erkannte und das Böse tat, in seinem Organismus eine Umwandlung stattgefunden habe, daß der klare Gallenfarbstoff sich in die Schwarzgalle umgewandelt hat. Die Neigung zur Melancholie, zur Traurigkeit und damit zum Zorn sind uns ‚eingefleischt‘.

Im Zuge der Genforschung wurde beim Menschen ein sog. Depressions-Gen in seiner Erbanlage (DNS) entdeckt. Damit wäre wissenschaftlich erwiesen, was Hildegard vor über 800 Jahren durch die Gabe ihrer Schau erkennen durfte.

2. Die Neigung zu Traurigkeit und Zorn werden vererbt.

Wir haben uns vom ersten Elternpaar her diese schädlichen Neigungen zugezogen, sagt H.v.B. Sie sind uns vererbt worden. Vererbung geschieht zum einen durch die natürliche
genetische Weitergabe
von Anlagen, Fähigkeiten und Reaktionsweisen.

Die andere, ebenso wichtige Weise ist die soziale Vererbung, insofern das Kind am Verhalten der Erwachsenen sein eigenes Verhalten ausrichtet.

Ich erlebe es als eine der tragischsten Verwicklungen des menschlichen Lebens, daß ein Kind, (normalerweise) in Freuden empfangen, mit Sehnsucht erwartet, als Glück und Erfüllung des Lebens begrüßt, in den Strudel der Traurigkeiten, der Zwiespältigkeit, auch der Ablehnung und des Zorns hineingezogen wird. Und dies nicht nur, weil auch die gutmeinendsten Eltern nicht frei sind von dieser Neigung zum Zorn, zur Wut, zum Ärger, zum
Egoismus, sondern auch weil jedes Kind diese Veranlagung mit auf die Welt bringt.

Auf diesem Erfahrungshintergrund verstehe ich Erbschuld, von der nach Lehre unserer
Kirchen nur Jesus und Maria ausgenommen waren.

Nach Erkenntnissen der Psychoanalyse werden ja auch die schweren Depressionen in der Kindheit grundgelegt, in einer Zeit, in der die Seelen ‚wachsweich‘ sind, in der die tiefsten Einschärfungen hinterlassen werden. Eine der vernichtendsten Einschärfungen lautet,
wie sie H.v.B. in der (auf S.7 zitierten) Vision hört: „Besser wäre es dir, du wärest nicht.“
Ich kenne Frauen, die von ihrer eigenen Mutter hören mußten: ‚Hätte ich dich bloß nie
gesehen!‘ Diese Mitteilung muß nicht unbedingt in Worten gemacht werden, es genügt
die gefiihlsmäßige Übermittlung, um ein depressives Lebensgefiihl grundzulegen.                            .

Wer als Kind ähnliches erfährt, wird in seinem Leben immer wieder gegen die Verzweiflung ankämpfen müssen. Ich weiß von nicht wenigen Menschen, die ihr Leben lang eine tiefe Traurigkeit mit sich herumtragen, weil sie als Kind nicht die Liebe, die Zuwendung,
das Wohlwollen, die Geborgenheit erfahren haben, deren sie zum Leben bedürfen.

In diesem Fall hilft die Erkenntnis, daß auch unsere Eltern selbst in diesen negativen
Strom hineingeboren sind, aus dem sie sich nicht selbst befreien können.

,,Aus der Traurigkeit aber erwächst der Zorn .. “ Es fällt zunächst vielleicht schwer, den Zusammenhang zwischen Traurigkeit und Zorn zu sehen und zu akzeptieren. Traurigkeit entsteht bei Frustration: wenn ich etwas nicht bekomme, was ich brauche oder möchte, wenn mir etwas genommen wird, was ich liebe, wenn mir etwas nicht gelingt, was ich anstrebe usw. Die Traurigkeit ist die erste, die primäre Regung. Sie wird aber oft gar nicht wahrgenommen, weil die Aggression, die Wut auf denjenigen, der mir das zufügt, sehr schnell die dahinter liegende Traurigkeit zudeckt. Die Wut, der Haß, kann sich auf Menschen richten oder letztlich auf Gott, besonders bei Todesfällen. Das ist dann jener schädliche Affekt,
der die Seele ‚mordet‘ und sie in die Dunkelheit führt.

Wenn ich oben von denjenigen Menschen sprach, die wegen der Verletzungen ihrer Kindheit ein Leben lang traurig sind, so ist es eine noch größere Zahl, die auf ihre Eltern deswegen eine ohnmächtige Wut haben und ihnen nicht verzeihen können. Ich erfuhr einmal
von einer 80-jährigen Frau, die ihrer eigenen Mutter noch nicht verziehen hatte.

Wir können aus diesem ‚Teufelskreis‘ der genetischen und sozialen Vererbung nur ausbrechen, wenn wir uns dieser Verkettung bewußt sind. So können wir auch unsere Eltern besser verstehen und ihnen verzeihen. Sie sind ja selbst nicht nur Täter sondern auch Opfer: auch sie sind Verwundete.

Erst wenn wir unsere Wunden sehen, sie wahrnehmen, dann können wir sie behandeln. Dazu muß die tödliche Verbindung Traurigkeit-Zorn gesprengt werden. Dann erst kann der Heilungsweg der Verzeihung beschritten werden – der oft sehr steinig und mühsam sein kann. Letztlich ist er nur möglich in dem Bewußtsein, daß Gott auch mit mir Mitleid hat
wie der barmherzige Vater.

Wir müssen also zurückgehen hinter unsere menschlichen Erfahrungen und in unserer Seele den Ort finden, wo wir Gott als den Liebenden erfahren können, der uns von Ewigkeit her gewollt hat: ‚Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Mein bist du.‘

3. Akzeptieren hilft, Hadern blockiert.

Hildegard spricht davon, daß sich viele Menschen in der Verzweiflung ersticken und aufreiben, andere sich dagegen wehren, wieder andere vor der Bedrückung fliehen.

Ich denke, wir alle kennen dieses Klagen, das Hadern mit unserem Schicksal, genau so wie die Flucht in Ablenkung und Zerstreuung oder in die Sucht. Es ist uns heute auch bekannt, daß das Sich-Wehren die besten Kräfte bindet und den Aufbau einer positiven Haltung
verhindert.

Am Beginn eines positiven Weges steht deshalb das Akzeptieren einer Situation, auch wenn sie für mich sehr schwer zu ertragen ist. Wir erfahren bei H.v.B. ganz deutlich, daß diese unvollkommene und zwiespältige Daseinsweise alle Menschen betrifft, daß jeder Mensch unter den Dunkelheiten leidet, auch wenn wir dies häufig voreinander verbergen wollen.

Bin ich nicht geneigt zu glauben, daß gerade mein Schicksal das schwerste ist?
Geht es nicht den anderen viel besser? Warum trifft es gerade mich?

Hier verbündet sich die Traurigkeit mit dem Neid und erzeugt die Bitterkeit des Herzens, die als negative Einstellungen ‚die Seele morden und sie in Trümmern und Verderben
zurücklassen‘.

Erst wenn wir akzeptieren können, daß unser aller Dasein ein Leben im ‚Elend‘ ist – das heißt dem Wortsinn nach ‚im Ausland‘, in der Heimatlosigkeit – können wir diese Situation als Herausforderung annehmen, die unsere besten Kräfte braucht. Wir müssen lernen, mit dieser Traurigkeit zu leben ohne zornig oder verzweifelt zu werden, ohne neidisch zu sein auf die, die es vermeintlich besser haben.

Ich soll und darf darüber traurig sein, daß mein Leben nicht heil ist.daß mir immer wieder Notwendiges zum Leben fehlt, im tiefsten Grunde ist es die Liebe, die uns mangelt, die Liebe, die wir nicht geben oder die Liebe, die wir nicht empfangen. Ich soll darüber traurig sein, daß ich aus Gedankenlosigkeit, Egoismus oder Lieblosigkeit von den anderen verletzt werde oder daß ich die anderen verletze, traurig darüber, daß ich beständig hinter mir und meinen guten Möglichkeiten zurückbleibe.

Diesen Mangelzustand soll ich vor Gott tragen, im Wissen meiner Abhängigkeit Gottes Hilfe erbitten. Hildegard erfährt immer und immer wieder die Zusage Gottes: „Und ich werde dir helfen.“

Wenn ich auf diese Weise die Unvollkommenheit meines Lebens und meiner Person
annehmen kann, werde ich auch leichter dem anderen sein Versagen verzeihen können.
„Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“, so hat Martin Buber Jesu Hauptgebot der
Liebe formuliert; damit wird eine Solidarität im gegenseitigen Verstehen geschaffen
und es wird Verhärtung und Verzweiflung verhindert.

H.v.B. hört wie Christus spricht: „Ich bin der große Arzt fiir alle Krankheit.“
Auch und gerade weil wir viel zu leiden haben, läßt uns Gott nicht ohne Hilfe.
Wir müssen ihn allerdings darum bitten.

4. Wir sollen das Heilmittel suchen.

Weil wir auf so vielfältige Weise geplagt sind, hält Gott seine großen Kräfte bereit,
sowohl auf der spirituellen als auch auf der natürlichen Ebene.

„Die gesamte Schöpfung, die Gott in der Höhe wie in den Tiefen gestaltet hat, lenkte er
zum Nutzen des Menschen … Und wie die Geschöpfe dem Menschen für seine leiblichen Bedürfnisse zu dienen haben, so sind sie auch nicht weniger zum Heil seiner Seele
bestimmt.“

Das Hilfsangebot liegt also bereit, aber wir sollen uns aufmachen, es zu suchen.
Mir scheint die Bequemlichkeit vieler Zeitgenossen ein Hindernis für die Überwindung
von depressiven Stimmungen zu sein.

Wir erfahren durch die heilige Hildegard, wie gerade gegen die angeborene Neigung zur Traurigkeit und zum Zorn nicht nur ein Kraut gewachsen ist. Es sind Erkenntnisse, die normalerweise nicht bekannt sind, da H.v.B. , wie sie selbst sagt, die inneren Kräfte erkennen kann, die Gott in die Natur gelegt hat. Sie beschreibt bei vielen Nahrungsmitteln, Kräutern und Gewürzen deren Wirkung auf Körper, Seele und Geist, die über die Körpersäfte gehen. Im modemen Sprachgebrauch könnte man es mit den Überträgerstoffen bezeichnen, die über die Hormone, Sekrete, Enzyme auf den Organismus, vor allem auf das Nervensystem wirken.

Diese Aussagen stoßen oft auf große Skepsis, da sie ungewohnt und bisher wissenschaftlich noch nicht nachgeprüft sind. Es gibt aber bereits viele Erfahrungswerte, die von jenen Menschen gesammelt wurden, die sich darauf eingelassen haben. Es betrifft die Ernährung und auch natürliche Heilmittel. Man muß eingefahrene krankmachende Gewohnheiten ändern, muß vielleicht selbst etwas sammeln oder zubereiten, manches schmeckt oder riecht nicht so gut. Haben wir deshalb so wenig natürliche Freunde, weil wir gewohnt sind, alles möglichst ohne Anstrengung, geruchsfrei verpackt in der Apotheke kaufen zu können?
Es gibt immer wieder Menschen, die trotz einmal gemachter guter Erfahrungen wieder
in die alten schlechten Gewohnheiten zurückfallen.

Ich möchte an dieser Stelle nur einige kurze Hinweise auf Hildegard-Rezepte geben,
die dem Menschen helfen, leichter mit der Traurigkeit und dem Zorn fertig zu werden.
Es gibt eine reiche Auswahl an einschlägiger Literatur über die sog. Hildegard- Medizin.

Dinkel– gleich wie er zubereitet wird – bereitet rechtes Fleisch und Blut, und er macht
frohen Sinn und Freude im Gemüt des Menschen.

Hafer ist eine vorzügliche Speise für Schwache und Gesunde (nicht für Kranke),
bereitet einen frohen Sinn und einen reinen, klaren Verstand.

Fenchel macht den Menschen fröhlich, gibt ihm eine schöne Farbe, einen angenehmen
Geruch und gute Verdauung.

Kubebenpfeffer hilft gegen starke Erregbarkeit, macht den Geist fröhlich und den Verstand rein und klar.

Muskatnuß: dem Menschen geht das Herz auf, seine fünf Sinne werden gereinigt und sie liefert ihm ein klares Denken.

Wermut unterdrückt die Melancholie, macht die Augen klar, stärkt das Herz und bereitet
eine gute Verdauung. (1 l Wein mit 120 g Honig zum Kochen bringen, etwa 40 ml -2 Schnapsgläschen voll- Saft aus frisch gepreßten Wermutblättern dazugeben.
Noch warm in Flaschen füllen und zukorken.) Jeden dritten Tag nüchtern von
Mai bis Oktober ein Likörglas voll trinken.

Gewürzmischung als gleichviel Zimt und Muskatnuß und weniger Gewürznelken (alles gemahlen): Kekse oder Kuchen damit gebacken. Hildegard sagt: „Ihr öfterer Genuß vertreibt alle Bitterkeit des Herzens und der Seele, öffnet dein Herz und schärft deine Gefühle,
mindert alle schlechten Säfte, verleiht dem Blute guten Saft und macht dich stark.“

Aronwein: In welchem Menschen die Melancholie wütet, ist immer traurig.
Er trinke oft mit Aronwurzel gekochten Wein.

Gelöschter Wein: Wer sehr zum Zorne neigt, soll Wein erhitzen, mit einem Schuß kalten Wassers abschrecken und dann trinken.

Neben diesen konkreten Rezepten können wir durch unsere gesamte Lebensführung
unser Leben ordnen, wenn wir uns an der gottgegebenen Schöpfungsordnung orientieren.

Der Schöpfer hat die Natur zu unserem Heile, zu unserer Heilung und nicht zuletzt zu
unserer Heiligung sinnvoll gestaltet. In unserer technisch-zivilisierten Welt entfernen wir uns immer weiter von den natürlichen Abläufen des Lebens. Eine Folge davon ist eine Störung unseres leib-seelischen Gefüges, das sich in schweren Verstimmungen äußern kann. Es geht hier nicht um ein primitives ‚Zurück zur Natur‘ sondern um eine neue Bewußtheit unseres Angewiesenseins und unserer Verbundenheit mit Gottes Schöpfung, von der wir ein Teil sind.

,,Auf dieser Welt hat er den Menschen mit allem umgeben und gestärkt und hat ihn mit
gar großer Kraft rundum durchströmt, damit ihm die Schöpfung in allem beistünde.“

Die Schöpfung kann uns dann beistehen, wenn wir mit ihr und nicht gegen sie leben.
Das großartige Modell von Tag und Nacht darf nicht straflos mißachtet werden, aber Technik, Elektrizität, Elektronik verleiten uns dazu. Um depressiven Verstimmungen vorzubeugen – bevor man Schlafmittel oder Psychopharmaka nimmt – sollen wir das richtige Maß zwischen Schlafen und Wachen einhalten., „ … damit nicht durch zuviel Schlafen und
Wachen der Mensch in seinem Gehirn wie auch dem übrigen Organismus, in seinen Sinnen wie auch der übrigen Leiblichkeit, geschwächt wird. Wer jedoch mit Maß schläft, der wird gesund bleiben … Wer aber lang und übermäßig wach bleibt, der verliert seine Kräfte
und wird in seiner ganzen Stimmungslage ausgelaugt …

Im Zustand der Trauer aber oder auch der Furcht, der Angst, im Zorn … oder in anderen
Widersprüchen … hat er nicht die richtige Ausgewogenheit des Inneren und liegt deshalb wach, bis er in seinem Gemütszustand mit jener Angelegenheit wieder in Übereinstimmung kommt…“

Hildegard beschreibt hier die bekannte Tatsache, daß negative und zerstörerische Gefühle, die nicht aufgearbeitet sind, uns den Schlaf rauben und damit depressiv machen.
Sie können auch die Ursache schwerer Träume sein, so daß wir am Morgen wie
‚gerädert‘ sind:

„Beschäftigt sich nämlich beim Einschlafen noch mit unpassender Ausgelassenheit oder mit Traurigkeit oder mit Zorn, Angst, Herrschsucht o.ä., so hält ihm der teuflische Trug
oftmals im Traumleben noch vor …. “

Die Konflikte des Tages werden in der Nacht durch die Träume verarbeitet. Es ist notwendig, negative Gefühlsreste vor dem Einschlafen aufzuarbeiten, damit sie nicht Nährboden für depressive Stimmungen werden. Schlafmittel oder Psychopharmaka verdecken und verschleiern lediglich die Probleme, die dann am nächsten Tag um so stärker ans Tageslicht drängen. Die weithin in Vergessenheit geratene Gewissenserforschung mit Abendgebet könnte eine wirksame Hilfe für einen erholsamen Schlaf sein. Es ist notwendig, sich selbst und seinen dunklen Seiten zu stellen, um Gottes Erbarmen für sich selbst und für diejenigen anzurufen, die uns verletzt haben.

Ein Sprichwort lautet: „Wer nicht mehr traut auf Gottes Willen, ersetzt sein Nachtgebet durch Pillen“.

Ein weiteres Heilmittel, das Gott gegen die Melancholie verordnet hat, ist die Freude an
der Natur.
Gott hat sie um unseretwillen geschaffen und in unsere Verantwortung gelegt.
Deshalb sollen wir liebevoll mit ihr umgehen. Dadurch wird unser Herz weit und froh und die Traurigkeit schwindet. Öffnen wir unsere Sinne und hören die Botschaft, die Gott uns
in seinen Geschöpfen zukommen läßt.

Hildegard sagt: „Herzenshärte ist das Schändlichste von allem, weil sie keine Barmherzigkeit kennt, nichts von Liebe wissen will und weil sie nichts Gutes wirken kann…
Die Blumen mit ihren Blüten schenken anderen Blumen den Duft; ein Stein verleiht dem anderen Glanz; und jeder Teil der Schöpfung zeigt durch seinen Zusammenhang eine Art von liebender Umarmung … (H.S. 295)

Können wir diesen Quell der Freude noch wahrnehmen? Haben wir uns in unserer Gier nach immer mehr nicht eine Reizüberflutung geschaffen, die uns innerlich arm und
erlebnisunfähig macht?

H.v.B. hört die Elemente klagen: „Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn
nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die
Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.“

Sie hört Gott antworten: „…Ich werde die Menschen so lange heimsuchen, bis sie sich
wieder zu Mir wenden… Doch nun speit die Luft Schmutz aus, so daß die Menschen nicht einmal mehr recht ihren Mund aufzumachen wagen. Auch welkte die grünende Lebenskraft durch den gottlosen Irrwahn der verblendeten Menschenseelen. Nur ihrer eigenen Lust
folgen sie und lärmen: ‚Wo ist denn ihr Gott, den wir doch niemals zu sehen bekommen?‘
Ihnen antworte Ich: Sehr ihr mich denn nicht Tag und Nacht… wenn ihr sät und die Saat aufgeht, von Meinem Regen benetzt?… Jegliches Geschöpf strebt hin zu seinem Schöpfer … Nur der Mensch ist ein Rebell…“ (MV S. 133)

Wenn der Mensch die Geschöpfe mißhandelt, trauert die Schöpfung und der Mensch
mit ihr. Die gequälte Kreatur kann dem Menschen keine Lebenskraft mehr schenken.

Zu einer geordneten Lebensfuhrung gehört auch das richtige Maß bei Essen und Trinken. Es ist Grundlage für Ausgeglichenheit und Zufriedenheit, fiir ein ‚königliches Leben‘.

Hildegard betont, daß die Mahlzeiten nur zu festgesetzten Zeiten eingenommen werden dürfen. Es soll keiner auf seine eigene Faust und nach seinem eigenen Besserwissen fasten, denn dadurch entzieht er dem Organismus die Lebenskraft. Auch das Fasten soll nicht
ohne Maß stattfinden. „Davon dörrt der Mensch aus.“

Ein Mensch, der zur Verzweiflung neigt, also ein depressiv gestimmter Mensch soll überhaupt nicht fasten. Ebensowenig ein hochmütiger Mensch.

Für den Fall einer großen Traurigkeit rät Hildegard, daß der Mensch tüchtig von den ihm zuträglichen Speisen verzehren soll, damit er
durch „die Nahrung neu belebt wird, weil
ihn die Traurigkeit ja so bekümmert … Oftmals sehe ich, wie ein Mensch seinen Leib durch
allzugroße Enthaltsamkeit niederhält, und wie dann doch nur der Überdruß aufsteht;
solcher Verdrossenheit gesellen sich mehr Fehler zu, als wenn er seinem Körper die
richtige Nahrung vergönnt hätte.

Die Speisen sollen zur Erquickung in rechtem Maße verteilt werden, damit es der treuen Gefolgschaft nicht an Freude der Seele ermangele“…

Bei der hl. Hildegard steht – im Gegensatz zu manchen Diät- und Ernährungslehren unserer Zeit – immer die Freude, die Erquickung und der Aufbau von Seele und Leib im Mittelpunkt ihrer Lebensregeln. Gott gibt uns die Nahrung, damit wir uns daran freuen und Ihm dafür danken. Das Lob- und Dankgebet bei Tisch bewahrt uns vor stumpfer, gedankenloser und mit negativen Gefiihlen beladener Nahrungsaufnahme!

5. Unsere Kräfte schöpferisch entfalten.

In ihrer Vision hört H.v.B. die Seele in ihrer Verzweiflung klagen, daß sie „weder auf dem Berge der Heiligkeit noch in der Ebene des guten Willens irgend etwas zustande bringe.“ Die Unruhe des Zweifels, der Hoffnungslosigkeit, der Trauer und Niedergeschlagenheit
blockieren alle guten Kräfte.

Sie beschreibt in ihrem Buch „Scivias“, wie die Seele sich durch die Gnade Gottes erinnert, daß sie von Gott geschaffen ist. Dadurch kann sie sich inmitten all der Bedrängnisse den ‚teuflischen Einflüsterungen‘ entgegenstellen und sprechen: „Ich werde der gebrechlichen Erde nicht weichen sondern männlich wider sie streiten.“

Wir hören vom Kampf gegen die Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit.
Dazu brauchen wir Geduld – auch eine von Hildegard genannte Tugend, eine Gotteskraft. Der Kampf muß geduldig jeden Tag wieder aufgenommen werden, um die schöpferischen Kräfte in uns wieder freizulegen. Es ist notwendig für den Menschen, ein Werk vor sich zu haben, wirken zu können. Denn dazu sind wir geschaffen, wie H.v.B. sagt, ein ‚opus operans‘ zu sein, ein geschaffenes Werk, das seinerseits wieder schöpferisch tätig sein kann.

Kommt unsere Resignation daher, daß wir keine sinnvolle Aufgabe sehen, an der wir
unsere Kräfte entfalten können?

Trauen wir uns zu wenig zu? Fühlen wir uns überflüssig und wertlos?

Ich erinnere mich an eine gelähmte Frau im Rollstuhl, die eine erfüllende Aufgabe darin fand, andere im Gespräch zu ermuntern und ihnen Texte vorzulesen, die sie mit Hoffnung und aufbauenden Gedanken erfüllen konnten.

Ich denke auch an einen mehrfach behinderten Mann, der zusammen mit seiner Frau zum Tanzen ging und dazu auch Freunde und Nachbarn mitnahm.

Wir sprachen im Rahmen eines Seminars davon, daß die Zubereitung einer Mahlzeit
schöpferisches Tun ist.

Und wer krank im Bett liegt, kann für die anderen beten, die mitten im Kampf des Lebens stehen. Das ist eine wichtige Aufgabe.

„Nimm du den Pflug in die Hand und bebaue das Land. Dies ist notwendiger, als wenn du dich mit dem Herausreißen unnützer Kräuter unter den Blumen beschäftigst.“
Diesen Hildegard-Text verstehe ich so, daß wir uns nicht mit dem Beklagen von Negativem aufhalten sondern eine Aufgabe suchen sollen, die unseren Kräften angemessen ist.

,,All dies soll mit Freude und ohne Überdruß trotz allem Eifer durchgehalten werden“,
also in richtiger Ausgewogenheit, im rechten Maß.

„Ora et labora“ – bete und arbeite – das ist die alte benediktinische Lebensregel, der sich auch die heilige Hildegard verpflichtet wußte. Der Mensch soll hierdurch nicht Beschwerlichkeiten spüren, sondern „immer nur Freude empfinden.“ Dazu gehört freilich, daß der wechselhafte Mensch einen Halt braucht, daß er der Zucht und straffen Lebensführung
b
edarf. (H.S.281)

Hildegard spricht sogar davon, daß wir uns angesichts unserer schädlichen Neigungen
Gewalt antun müssen. Dem ernsthaften Willen, aus dem Depressionsloch herauszukommen muß das geduldige Bemühen folgen.

Im folgenden Kapitel wollen wir noch einen Schritt tiefer in die Ursachen und Heilungsmöglichkeiten von depressiven Verstimmungen tun.

7. Seele und Leib in Übereinstimmung bringen.

Wir sind geneigt, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit lediglich als seelisch-geistige
Zustände zu betrachten. Und doch lehrt uns bereits der Augenschein, daß die innere Verfassung an der äußerlichen Körperhaltung, an den Gesichtszügen, den Bewegungsabläufen, an der Stimme, am Blick und vielem anderen mehr erkannt werden kann.
Wir sprechen aber auch von ‚larvierten Depressionen‘, d.h. daß sich hinter dem
Symptom einer körperlichen Krankheit eine Depression verbergen kann.

Für H.v.B. ist es eine unzweifelhafte Tatsache, daß die Seele ihren Körper entweder aufbaut oder aber zerstört. Hoffnungslosigkeit, Resignation, Bitterkeit, Traurigkeit beeinträchtigen unseren Organismus. Wir müssen deshalb an unserer Seele, unseren Antrieben, Gefühlen, Gedanken und Einstellungen ansetzen, um auch unseren Körper zu heilen.

„Wenn nämlich die Seele für sich selbst und ihren Leib Widerwärtigkeiten spürt, dann
zieht sie die Leber, das Herz und das Gefäßsystem zusammen; dabei erhebt sich um das Herz gleichsam ein Nebel und verdunkelt das Herz. So fällt der Mensch in Trübsinn.
Aus der Traurigkeit aber erhebt sich der Zorn … Durch solchen Zorn verfällt der Mensch
oftmals in schwere Krankheiten … Wenn dann nicht die Gnade Gottes schnell herbeieilt und die Seele befreit, so entwickelt sich diese Niedergeschlagenheit zur geistigen Lähmung
und erzeugt Überdruß, Verhärtung und Halsstarrigkeit im Menschen. Sie unterbindet die Schwungkraft der Seele … Der Mensch erregt sich leicht in Haß und anderen todbringenden Leidenschaften, die die Seele morden und sie in Trümmern und Verderben zurück-
lassen.“ (H.S.222)

Das ist in kurzen Zügen die
Entstehungsgeschichte einer Depression:

Widerwärtigkeiten gleich welcher Art,
daraus entstehende Traurigkeit,
in der Folge davon Zorn und Haß
am Ende stehen geistige Lähmung, Resignation, Depression.

Wir wollen die Schritte aus der Gefangenschaft der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung heraus betrachten anhand einer Vision, die die heilige Hildegard in ihrem ersten Buch
„Scivias“ -Wisse die Wege – in der vierten Schau beschreibt.

Die Seele und ihr Zelt

Am Beginn steht die Klage über den trostlosen Zustand. „Weiter sah ich, wie auf eine solche Feuerkugel (die Seele), die in einem Menschenleib weilte, viele Stürme eindrangen und sie bis zur Erde niederbeugten. Tiefaufseufzend klagte sie:

‚Wo bin ich? Im Todesschatten. Welchen Trost habe ich? Den Trost der Heimatfernen.
Ich sollte ein Zelt haben … lichter als die Sonne und die Sterne. Ein Topas sollte sein Fundament, von lauter Edelstein seine Mauem sein… weil ich der lebendige Hauch bin, den Gott in den trockenen Lehm entsandte. Deshalb sollte ich Gott kennen und ihn spüren.
Aber ach! Seitdem mein Zelt (mein geistbeseelter Körper) erkannte, daß es mit seinen
Augen alle Welt erschauen könne, richtete es seine Kräfte nach Norden (in die Gottesferne ). Wehe! Wehe! Darum bin ich gefangen und der Freude der Erkenntnis beraubt…
In die Fremde wurde ich entführt … der schmählichsten Knechtschaft bin ich ausgeliefert.“

Der Mensch hat sein Vaterhaus verlassen, ist aus der Liebe und aus dem Gehorsam gegenüber den Lebensgesetzen Gottes herausgefallen. Er geriet in die Unordnung und Trostlosigkeit seiner Eigenmächtigkeit. Die geistigen Mächte der Dunkelheit und des Bösen bekommen Macht über ihn. Die mit dem Wort ‚Teufel‘ bezeichnete geistige Macht ist für Hildegard v.B. der real existierende Gegenspieler Gottes, der Leben vernichten will.

Wir betrachten nun die Vision weiter, die aus fiinf Teilbildern besteht.

1. Teilbild: Bei den Trögen der Schweine.

Man sieht hier einen Menschen mit einer Kette um den Hals, wie er von teuflischen Gestalten zu Schweinen gezerrt wird. „Meine Bedränger, die mich gefangennahmen, trieben mich mit Faustschlägen zu den Trebern der Schweine, um meinen Hunger zu stillen. Sie führten mich an einen trostlosen Ort und gaben mir bittere, in Honig getauchte Kräuter zur Speise.“

Die Gefangenschaft bei den Trebern der Schweine – findet sie dort statt, wo wir Sklaven unserer ungeordneten Triebe werden? Wo wir in die Sucht geraten? Unsere guten und wichtigen Triebe der Selbsterhaltung (Essen und Trinken) und der Arterhaltung (Sexualität) sind ständig in Gefahr, in Begierde zu entarten.

H.v.B. hört, wie Gott der Schlemmerei antwortet: „Du stopfst deinen Bauch so voll, du Schlemmer, daß deine Adern beinahe platzen … Wo ist da noch eine Spur vom süßen
Ton der Weisheit, die Gott dem Menschen verlieh? Die Enthaltsamkeit nimmt aus dem Menschen das Maß, auf daß seinem Leib nichts fehle, daß er aber nicht zu üppig werde …
Du aber, du Schlemmer, weißt und kennst von alledem nichts … denn einmal stürzest du dich in unangemessenes Fasten, so daß du kaum noch leben kannst, und dann stopfst du wieder in deiner Gefräßigkeit den Bauch so voll, daß du dabei zum Überkochen kommst und üblen Schleim erbrechen mußt. (Bulimie)!)

Die ‚in Honig getauchten bitteren Kräuter‘ versinnbildlichen das sog. süße Leben,
dessen Verlockungen den bitteren Kern vertuschen.

Die Sucht nach Sexualität ist – auch schon bei 12-13 jährigen Mädchen – die Ursache für schwere seelische Erkrankungen, Depressionen und Verzweiflung.

Demgegenüber steht die Castitas (Keuschheit), die wir auch mit geordneter Geschlechtlichkeit übersetzen können. H.v.B. hört diese sprechen:

„Ich besitze im Wohlklang des frohen Lebens die Freuden der Redlichkeit und Schamhaftigkeit. Das fröhliche Leben, das in mir herrscht, wird weder durch die Schmähungen der Unzucht gestört noch durch den Schmutz der Unkeuschheit besudelt… Darum erkenne,
o Mensch, was du in deiner Seele bist, der du das Gut der Erkenntnis von dir wirfst und
dich auf gleiche Stufe mit den Tieren stellen willst. (Aus: Mensch in der Verantwortung)

2. Teilbild: Der Mensch in der Kelter.

„Danach legten sie mich auf die Kelter und quälten mich mit vielen Qualen.
Sie zogen mir die Kleider aus und schlugen mich wund.“

Die Wunden, die Menschen den Menschen zufügen, sind äußerst schmerzhaft, können ein Leben zerstören und in die tiefste Verzweiflung führen. Es sind die Lieblosigkeiten jeder Art, Demütigungen, seelische und körperliche Verletzungen durch Beherrschung und Willkür, durch Ausbeutung, Habgier und Geiz.

Am zerstörerischsten ist der Zorn, der folgendermaßen spricht: „Ich zermalme und
vernichte alles, was mir in die Quere kommt… Mit dem Schwert schlage ich um mich
und mit Knüppeln haue ich drein, wenn mir jemand ein Leid antun wollte. (MV) S.36)

Hildegard spricht über die Herzenshärte, in der nicht eine Spur von Güte lebt, die ohne jedes Erbarmen und ohne alles Wohlwollen ist. Sie hat nichts anderes im Sinn, „als die Menschen unter Druck zu setzen … Wie ein Klumpen Blei, der in aufgewühlte Wasser geworfen wird, liegt sie da in der Tiefe und rührt sich nicht mehr zu irgend jemandes Nutzen …
Sie macht das Menschliche als solches verächtlich … sie bleibt einfach hart und verachtet alles. (MV.S.61)

Es sind die vielen ‚Laster‘, die den Menschen in die Dunkelheit treiben. Wenn wir uns auch oft als Opfer sehen, müssen wir bei ehrlicher Selbstkritik zugeben, daß wir in gleicher Weise Täter sind, denn wer könnte schon behaupten, daß es ihm leicht fällt, auf eine Demütigung nicht mit Lieblosigkeit und Wut zu reagieren?

Auch der Geiz ist ein solches Laster: „Ich bin doch kein Narr! Ich raffe alles an mich und sammle alles in meinem Schoß, als daß ich sie einem anderen überlasse.“

„Mit all seinen Kräften ist der Geiz darauf aus, daß sich die Menschen gegenseitig zerfleischen … Menschen, die diesem Laster sklavisch ergeben sind, haben nirgendwo Halt und Sicherheit, sie vertrauen nicht auf Gott … Wenn nämlich die Geizhälse nicht kriegen, was sie wollen, fallen sie in eine Traurigkeit, aus der sie sich nicht leicht erheben können:
das ist der Weltschmerz. Solche Menschen haben weder an Gott noch an der Welt eine rechte Freude, noch können sie voll und ganz auf ihr Werk bedacht sein … (MV)

Solche Menschen enden in der Schwermut. Sie behaupten, nur zum Elend und im Elend
geschaffen zu sein. Sie behaupten: Gott will und kann uns nicht helfen, da wir zu solch
gewaltigem Unglück geboren sind, daß uns keinerlei Hilfe mehr kommen kann.

Wer so zu sich selber spricht, der sollte in sich gehen und seine Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit werfen. Er sollte im Seufzen nach höheren Dingen zugeben, daß er gefehlt habe, damit er sich auch jetzt noch Gottes Huld verdiene. Denn der Mensch ist von Natur aus gut.“ (MV)

3. Teilbild: Das Gift der Schlangen

„Sehr böse und gifte Schlangen wie Skorpione, Nattern und ähnliche, hetzten sie auf mich, so diese auf mich loszischten und mich ganz mit ihrem Gift bespritzten.“

Es ist das Gift der Zungen, das in Spott, Lüge, Rufmord, Verleumdung, Zank und Streit viel Leid über die Menschen bringt.

Die Mißgunst spricht: „Wenn ich das Schöne und Strahlende schon nicht selbst besitzen kann, dann will ich es wenigstens in den Dreck ziehen. Meine Redensarten entsende ich wie Pfeile im Dunkeln, und alle, die sich treuherzige Menschen nennen, verletze ich.“

Der Streit und die Spottsucht greifen die Menschen mit zänkischen Reden an, auch die Zwietracht ist ein solches Gift: „Die Menschen rennen in ihrem kranken Geiste mitten in
die Zwietracht und sind gegen die ganze Welt feindlich eingestellt… Sie zerstreuen und verschleudern in ihrer Härte und Bitterkeit all das, was Gott gemacht hat… Alles, was sie nur verdrehen können, reizen sie vielmehr zum Widerspruch, ohne auf die echten Werte der Menschlichkeit zu achten.“ (MV)

All die gezeigten Situationen können den Menschen in die Verzweiflung führen, die H.v.B. folgendermaßen sprechen hört: „Was ist das doch für ein furchtbares Entsetzen! Und wer könnte mich trösten! Wer vermöchte mir beizustehen, um mich dieser Katastrophe, die mich zermalmt, zu entreißen? Das Höllenfeuer ist aufgeloht rings um mich her, und Gottes Strafeifer warf mich weg in den Höllenschlund. Was bleibt noch übrig für mich, wenn nicht der Tod? Keine Freude am Guten habe ich und auch keinen Trost mehr an der Sünde.
Auf der ganzen Welt gibt es nichts Gutes mehr.“ (MV S.141)

So verfahren, wie die Situation ist, so schwierig ist auch die Lösung. Folgen wir nun der Schau Hildegards, um die Wege aus diesem Zustand heraus mitzuvollziehen.

Der erste Schritt besteht darin, sich seines Zustandes bewußt zu werden und die Traurigkeit zuzulassen.

Die Seele klagt nun: „Als ich nun vollständig entkräftet und niedergeschlagen dalag,
spotteten sie meiner und sagten: ‚Wo ist nun deine Ehre?‘ Ach, da erzitterte ich und
erbebte und sprach in tiefem Schmerzensseufzen schweigend zu mir selber: Oh, wo bin ich? Welches Auge kann meine Wunden sehen? Wen soll ich mir in dieser Gefangenschaft zum Tröster suchen? Ach, wer hat Mitleid mit meinem Schmerz? Der Himmel höre mein
Rufen, und die Erde erzittere ob meiner Klage und alles, was lebt, neige sich barmherzig meiner Gefangenschaft zu, denn das bitterste Leid drückt mich darnieder. Denn selbst meine Mutter Sion hat mich verlassen, weil ich vom Wege des Heiles abgeirrt bin …
Ich erinnere mich deiner Harmonien und – blicke auf meine Wunden. Ich sinne nach über die Freude und den Jubel deiner Herrlichkeit und – verabscheue das Gift, von dem ich durchseucht bin … Mein Schmerz ist unermeßlich … “

Es gibt keinen billigeren Weg aus der Verzweiflung heraus als den der tiefen existentiellen Erschütterung und dem Aufschrei nach Hilfe.

Die Tränen der Reue stehen bei der heiligen Hildegard immer am Anfang des Weges.
der aus der Verbitterung und Hoffnungslosigkeit zur Freude führt.

Gilt Weinen in unserer Gesellschaft nicht als Peinlichkeit? Nehmen wir nicht lieber Psychopharmaka und Beruhigungsmittel, als uns von einem Gefiihl übermannen zu lassen? Scheuen wir den Schmerz, den körperlichen wie den seelischen, der uns innerlich
aufwühlt und aufreißt? Wir nehmen uns damit die Möglichkeit der Reifung und des
inneren Wachsens.

Nehmen deshalb die Depressionen so erschreckend zu, weil wir in unseren Schmerzen und Verwundungen nicht mehr zu Gott schreien können? Eine Psychotherapie kann uns helfen, uns unseren Gefiihlen, unseren Verwundungen und Schmerzen zu stellen, sie wahrzunehmen und ihre Ursachen zu suchen. Sie wird aber nicht zur Heilung führen, wenn sie den Menschen nicht zur Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit führt,

Diese Hoffnung antwortet der Verzweiflung: „Keine Ahnung hast du und kannst dir nicht denken, was es alles Gutes in Gott gibt. Wenn du den Wert der Dinge freilich außer Gott suchst, so kann dir keiner helfen! Alle Belohnung kommt von ihm allein … Warum also hältst du dir dein Verderben schon vor, wo du noch gar nicht verurteilt bist? …
Daher soll kein Mensch, der etwas Gutes erreichen will, sich selbst sein Verderben vorhalten. Ist doch Gott das höchste Gut, und Er läßt keine gute Tat ohne ihren Lohn. Zahlreiche Strafen hältst du dir unterdessen vor, die du doch nie sehen wirst, um dabei in kindischer Torheit das Leben zu verlieren … “ (MV)

In unserer Gesellschaft ist es nicht üblich, den Wert der Dinge in Gott zu suchen.
Obwohl wir ständig erfahren, daß in den irdischen Dingen und in den Menschen kein dauernder Trost zu finden ist, versperren wir uns den einzig möglichen Weg der Hilfe, nämlich das Rufen zu Gott. Nur getragen von dieser Hoffnung auf Seine Hilfe können wir den
nächsten Schritt wagen.

„So will ich denn mit vieler Sorgfalt schmale Pfade suchen, auf denen ich meinen
schlimmen Genossen und meiner unglückseligen Gefangenschaft entrinnen kann.“

Nach dem Wahrnehmen meines schlimmen Zustandes muß ich – mit der Zuversicht auf Gottes Beistand – den entschlossenen Willen haben, wirklich etwas zu tun, um meinem Elend zu entrinnen.

Wir sprechen heute vom Leidensdruck, der erst entsprechend stark werden muß,
bevor ich etwas unternehme.

4. Teilbild: Der beschwerliche Weg.

„Nachdem ich so gesprochen hatte, entschlüpfte ich auf einen engen Weg, wo ich mich in einem schmalen Spalt verbarg und weinte bitterlich, weil ich meine Mutter verloren hatte … Siehe, da wehte wie sanftes Säuseln ein gar süßer Duft auf mich herab, von meiner Mutter mir zugesandt. Oh, wie ich da seufzte und weinte, als ich diesen kleinen Trost verspürte. Durch diese Tränen wurde ich so beglückt, daß es mir schien, als sähe ich meine Mutter.“

Hier erfahren wir die mütterliche Liebe Gottes, die, wie Hildegard sagt, durch die Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus auf uns herabkam, und die in der Kirche als ,,Mutter Sion“ weiterleben soll. Diese Erfahrung können wir entweder im Gebet machen, wenn es uns plötzlich innerlich leichter wird, oder aber durch die Sakramente, durchein gutes Wort eines lieben Menschen, durch ein Aufatmen  in der Natur. Die Traurigkeit über die Trennung von dieser mütterlichen Liebe Gottes bringt jene Tränenströme, in denen
‚unerhörte Wonne quillt‘ und die ein Geschenk des Heiligen Geistes sind.

Nun ist die Verhärtung und das Eis der Verzweiflung gebrochen und es kommt wieder
Bewegung ins Leben. Es ist jedoch erst der Beginn des Heilungsweges: „Ich aber verließ heimlich den Spalt und suchte auf eine Bergeshöhe zu gelangen, wo meine Feinde mich nicht mehr finden könnten. – Da warfen sie mir plötzlich ein Meer mit solchem Tosen entgegen, daß es nach keiner Seite zu durchwaten war. Aber von dem lieblichen Duft, der mir von meiner Mutter zugeströmt war, hatte ich noch so viel Kraft in mir, daß ich von neuem enge Pfade suchte. Aber diese waren mit Dornen und Disteln so dicht besetzt, daß ich kaum einige Schritte gehen konnte. Mit der größten Mühe arbeitete ich mich durch.
Ganz erschöpft kam ich auf der Spitze des Berges an … Da züngelten mir plötzlich
Nattern, Skorpione … und anderes Schlangengezücht entgegen.

Da stieß ich einen lauten Schrei aus: ‚O Mutter, wo bist du? Ich stürze wieder in die
Gefangenschaft zurück, in der ich so lange schmachtete. Wo ist deine Hilfe?“

Wer kennt nicht die Mühe, die Rückschläge, das Erlahmen, die scheinbare Aussichtslosigkeit aller Anstrengung?

,,Da hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter: ‚O Tochter, eile, Flügel sind dir verliehen vom allmächtigen Vater. dem niemand widerstehen kann. Darum fliege schnell über all diese Hindernisse hinweg.‘ Das tröstete mich gewaltig. Kraft kam über mich.
Ich nahm die Flügel und flog eilig über die Gift- und Mordbrut hinweg.“

An dieser Stelle wird die gewaltige innere Kraft erfahren, die aus dem Gebet kommt.
Wenn ich am Ende meiner Kräfte angekommen bin, kann ich mich vertrauensvoll in Gott hineinwerfen. Das Geschenk einer neuen Kraft durften schon viele erfahren, die es gewagt haben. Es geschehen Dinge, die vorher nicht möglich schienen.

5. Teilbild: Das sichere Zelt.

„Jetzt kam ich an ein Zelt, das innen aus gehärtetem Stahl gebaut war. In dieses trat ich
ein und verrichtete von nun an die Werke des Lichtes … Aber während ich so in meiner
Arbeit aufging, griffen meine Feinde zu ihren Köchern und beschossen mein Zelt mit ihren Pfeilen … Doch keiner von ihnen vermochte weder die Tür noch die Stahlwand des Zeltes zu durchbohren. So konnte auch ich von ihnen nicht verletzt werden. Kühn lachte ich ihrer und sagte: ‚Der Meister, der dieses Zelt gebaut hat, war stärker als ihr. Rafft nun eure Pfeile zusammen und steckt sie ein. Sie können eure Siegesgelüste an mir nicht stillen …
Unter bitterem Weh und heißem Mühen habe ich viele Kämpfe gegen euch geführt,
da ihr mich dem Tode überliefern wolltet. Ihr habt es nicht vermocht. Denn mit überstarken Waffen gerüstet, habe ich … mich entschlossen verteidigt. Hinweg mich euch, hinweg, mich könnt ihr fürderhin nicht mehr haben!“

Mit diesem großartigen Bild endet die Schau.

Es ist das Zelt. das Gott durch die Erlösungstat Jesu Christi für uns gebaut hat.
Wenn ich auf Ihn schaue, werde ich nicht mehr in Zorn, Neid, Haß, Stolz gefangen
genommen werden.

Hildegard sieht in ihrer Vision vom Erlöser ganz deutlich, daß sich der Mensch allein nicht aus der Dunkelheit erheben kann. Eine Selbsterlösung ist nicht möglich. Meditationsübungen können bestenfalls den Boden bereiten. Es können hilfreiche Wege sein, wenn wir in die Stille gehen. uns im Schweigen uns selbst und Gott stellen, unser Leben vor ihm ausbreiten, damit wir Seine Stimme und Seine Antwort hören, damit Er mit Seiner Antwort
ankommen und mit Seiner Kraft in uns wirken kann.

„Vom ungläubigen Volke verworfen und zum Leiden geführt (auch heute noch!), vergoß Er sein leuchtendes Blut und kostete die Nacht des Todes an Seinem Leibe … Er führte einen so mächtigen Schlag gegen die Finsternis, daß der andere Mensch, der ohnmächtig in ihr darniederlag, davon emporgezogen, aufrecht und mit Licht umkleidet, aus der Finsternis hervorging… Durch göttliche Macht befreit, war er dem Tode entronnen … (Sc, 2. Buch, 1. Schau)

Nach allem Bemühen und Kämpfen ist die Erfahrung der Liebe Gottes letztlich ein
Geschenk Gottes an uns, das wir dankbar und im Wissen um unsere Schwäche, unsere
Bedürftigkeit und unsere Fehler erbitten und dankbar annehmen können.

Genauso wie Verletzungen, Traurigkeiten, Bitterkeit und Verzweiflung im Grunde immer aus Mangel an Liebe geschehen – Liebe, die ich nicht erfahre oder nicht gebe, so finde ich zu Hoffnung, Wärme, Leben und Freude durch die Gewißheit, daß ich geliebt bin.

Jeder einzelne ist aufgerufen, die vielen Schritte zu tun, heraus aus Dunkelheit und Erstarrung und sich beschenken zu lassen von der Liebe, dem Leben und dem Licht, das GOTT ist.

Gott spricht: „Ich reiche ihnen meine Hand und kehre ihre Bitterkeit in Süßigkeit, so daß
sie die Buße, die sie mit vieler Schwierigkeit begonnen haben, in Frieden zu Ende führen …

Wenn du auf diese Weise aus deiner Bedürftigkeit heraus zu Gott aufseufzest, und wenn
du um der Bedürftigkeit deines Bruders, deiner Schwester willen zu Gott aufschreist, dann
nähert sich mit solchem guten Tun der Duft der göttlichen Liebe, und Gott zögert nicht,
solche Bitten mit ihrem gerechten Flehen zu erfüllen
.“