Keine neues Gesetz Die Bergpredigt von Eberhard Arnold
Predigt vom 13.11.2022 – Von der Teilhabe an Gottes Reich
Wie stehen wir zur Bergpredigt? Ist das wirklich der Weg, zu dem wir berufen sind?
Es war mir so entscheidend, dass die Gemeinde sich auf diesen ersten Schritt des Weges besinnt; denn die Bergpredigt ist der erste Schritt des Weges. Dann können wir durch nichts erschreckt werden, weder durch eigene Selbsterkenntnis noch durch finanzielle
Bedrohungen, noch durch die Schwäche der Gemeinschaft oder durch die Schwäche ihrer Zusammensetzung, wenn wir die Bergpredigt wirklich ganz erfassen und wirklich glauben.
Dann sind wir der Situation gewachsen, ganz wie wir sind, mitten in unserer Schwäche.
Die Bergpredigt ist kein neues Gesetz, das die Hingabe in Form einer neuen moralischen Aufgabe fordert. Hier ist Christus, die Essenz der Salzkraft, das Licht und die Wärme des Heiligen Geistes. Hier ist das innerliche Licht, die Klarheit des inneren Auges, die Lebenskraft des Baumes, der gute Frucht trägt. Hier ist der Charakter der Stadtgemeinde als ein Licht für die ganze Welt.
Wir müssen erfassen, dass das keine moralistische Hochspannung, sondern es ist die
Offenbarung der wirklichen Gotteskraft im menschlichen Leben. Wenn das menschliche Leben mit der Hingabe an Gott ernst macht , wenn Gott eintritt als die Lichtkraft, die
elementare Energie, die allein das neue Leben ermöglicht, nur dann werden wir das
neue Leben leben.
Wenn wir wie die Tolstoianer, dies als fünf neue Gebote auffassten, dann wären wir
vollständig hereingefallen. [Leo Tostoi beschreibt in seinem Buch „Meine Religion“ die Bergrede Jesu als 5 neue Gesetze: Frieden mit anderen, sexuelle Reinheit und Treue in der Ehe, keinen Eid schwören, dem Bösen nicht widerstehen und die Feindesliebe] Jesus zeigt, die Forderungen sind durch seinen Eintritt in die Weltgeschichte, nicht schwächer geworden sondern sind unendlich verschärft. Das sind natürlich nur fünf Beispiele – es könnten ebenso gut fünfhundert oder fünftausend gegeben werden –, fünf Beispiele dieser gewaltigen Wirkung dieser Lichtessenz, der Lebensenergie, an denen offenbar wird, wie Gott wirkt in Christus.
Diese Gerechtigkeit ist besser als die aller Gelehrten und Theologen.
Die Gerechtigkeit, die hier gegeben ist, ist absolut anders; sie kann auf dem Weg der moralischen Vorsätze und Gedanken und Begriffe überhaupt nicht gewonnen werden, sondern es ist eine vollkommen andere Art, diese Forderungen zu erfüllen: die wachstümliche Art. Es ist einfach das lebendige Leben. Wie das Licht lodert, wie das Salz ätzt, wie die Flamme leuchtet und der Saft im Baum pulsiert, so ist dieses Leben aus Gott. Es ist Leben, Leben, Leben!
Ursprünglich aus einer Ansprache Eberhard Arnolds im Jahr 1935, nun als Auszug aus
dem Buch „Salz & Licht: Über die Bergpredigt“ mit einem Vorwort von Jürgen Moltmann.
Die Bergpredigt: Eine Vergegenwärtigung von Jürgen Johannesdotter
Wieder einmal sind wir beieinander und geben einander Anteil an der Hoffnung, die uns trägt. Wie wohltuend ist es, in einem Kreis von Menschen zu sein, die von einer Hoffnung, die sie trägt, sprechen können; Menschen, die nicht zuerst dem Geist des „bad news are good news“ huldigen, sondern die Kraft, die aus dem Glauben kommt, nutzen, um der Welt zu verdeutlichen, dass sie in aller Not, auch in der selbstverschuldeten Not, eine von Gott geliebte Welt ist. Vergegenwärtigen wir uns, wie der Evangelist Matthäus die Bergpredigt inszeniert: Zuvor hat Jesus einen anderen Berg bestiegen, der war sehr hoch.
Dort wurden ihm „Alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ gezeigt um den Preis eines
Fußfalls. Jesus verweigerte den Preis und rief in der Folge armselige Fischer, um mit ihnen
zu gewinnen, was er auf dem Gipfel ausgeschlagen hat. Mit ihnen zog er umher „in ganz
Galiläa, lehrte in ihren Synagogen, predigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volk“. Das war die Erfahrung, die die ersten Hörer der Bergpredigt mit Jesus gemacht hatten. Matthäus liegt daran zu betonen: Jesus hat Macht, heilende Macht. Er hat als Arzt unvergleichlich gewirkt. Kein Wunder dass eine große Volksmenge ihm nachlief… „Selig seid ihr, die um Jesu willen Geschmähten und Verfolgten.“
Am Schluss des Evangeliums aber sagt er: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Das heißt „selig“. Die Armen, die Trauernden und alle die neunmal Genannten sind selig, weil Jesus bei ihnen ist. Sie bleiben arm. Sie bleiben in der Trauer.
Aber sie sind nicht allein. Sie sind selig um Seinetwillen.
Wenn ich unbeholfen vor einem weinenden Kind stehe, kann ich nicht sagen: Weine nur, bald wirst du schlafen. Wenn aber die Mutter das weinende Kind herzt und wiegt, mag
sie ihrem Kind zureden: weine nur, bald schläfst du. Was ich damit sagen will:
Die Seligpreisungen hängen an dem, der sie spricht und dem alle Gewalt im Himmel u. auf Erden gegeben ist. In dem Maße als die Worte des Bergpredigers Gewalt über uns gewinnen, in dem Maße sind wir selig… Vor über 60 Jahren schrieb Dietrich Bonhoeffer den oft zitierten Satz: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Nicht zitiert wird in der Regel der Folgesatz: „Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken.“ „Selig sind die Friedensstifter“, sagt der Versöhner.
Jeden Tag dokumentieren die Medien mit ihren Nachrichten, wie wenig die Welt auf den Bergprediger hört, wie unselig darum die heutige Welt ist… Der auf dem Berg steht und spricht, wird einmal aufstehen und herabkommen, um sichtbar zu machen, was jetzt noch verborgen ist: sein sind alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. Und wer auch nur eine kleine Erfahrung mit Jesus gemacht hat, weiß, dass die Zukunft, die er verspricht, sicher ist: Landbesitz, Sättigung, Barmherzigkeit. Gott schauen als seine Söhne und Töchter,
das Reich der Himmel haben – das kommt. Hoffentlich sind wir dabei. Amen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Andere Übersetzung: »die Frieden stiften«. (Mat 5,9)
Leonhard Ragaz, Die Bergpredigt Jesu
VORWORT
Die Bergpredigt wird wieder hervortreten. Immer stärker, immer stürmischer. Sie wird zurückgedrängt, wenn das Reich Gottes durch die sog. Rechtfertigung aus dem Glauben allein, das Evangelium durch die Theologie, die Botschaft durch das Dogma und mit alledem Jesus durch Paulus – den falsch verstandenen – ersetzt wird. Dann tritt an die Stelle der Bergpredigt der – falsch ausgelegte – Römerbrief und die Bergpredigt wird entweder nach dem falsch verstandenen Römerbrief ausgelegt oder, wenn’s gut geht, in den Raum nach der «Wiederkunft Christi» hinausgeschoben. Dann geht es mit der Sache Christi reißend schnell abwärts. Die Bergpredigt wird auch noch auf andere Weise falsch verstanden. Auf drei Arten. Sie wird entweder zu hoch hinaufgesteigert oder zu tief herabgezogen. Lange ist das Zweite üblich gewesen. Man hat die Bergpredigt, um ihr das scheinbar Utopische oder gar Phantastische zu nehmen, auf das Niveau einer edleren bürgerlichen Moral heraberklärt. So besonders im Protestantismus. Dieser hat in seiner offiziellen Form mit der Bergpredigt nicht allzuviel anfangen können. Sein Ausgangspunkt war der Römerbrief, so wie die Reformatoren ihn verstanden, damit aber die «Rechtfertigung aus dem Glauben allein», mit dem Mißtrauen gegen alle Werke, und sein Ende die Orthodoxie. Das Reich Gottes und die Nachfolge Christi stehen stark am Rande seines Denkens. Was er von der Bergpredigt verwendet, ordnet sich einer schon verbürgerlichten Ethik ein. In seiner ketzerischen Form freilich, die sich im Täufertum konzentriert, rücken sie, wie bei den Wickleffiten und Hussiten und deren Vorläufern und Nachfolgern, in den Mittelpunkt, zum Teil in einer gewissen utopischen Wörtlichkeit. Der Katholizismus hat auf seine Art einige Elemente der Bergpredigt bewahrt. Aber er hat ihre bedeutsamsten Forderungen in eine zu große Höhe hinauf gesteigert, indem er sie als einen Weg erklärte, der nur den «Vollkommenen» voll zugänglich wäre, und diese «Vollkommenheit» war ihrerseits wesentlich nur dem Mönchtum erreichbar. Die Aufklärung jeder Art hat vollends die Bergpredigt auf das Niveau der bürgerlichen Moral herabgezogen. Dann hat das Pendel wieder auf die andere Seite ausgeschlagen. Man hat die Forderung Jesu, wie seine Verheißung, wieder in eine solche Höhe geschraubt, daß sie unerreichbar schien. Daran ist ein wenig auch Tolstoi schuld gewesen. In der allerletzten Periode ist das aber auch die Tendenz der sog. radikaleschatologischen theologischen Denkweise gewesen, nach welcher das ganze Evangelium nicht auf eine Erfüllung in der Gegenwart, sondern auf den erwarteten ganz nahen Anbruch des vollendeten Reiches Gottes eingestellt, also unserer Welt fremd wäre. Beide Auffassungen sind falsch. Die Bergpredigt ist alles Andere als bürgerliche Moral. Sie ist aber auch keine Utopie und Phantastik. Sie ist durchaus realistisch. Sie ist sogar der einzige wahre Realismus. Sie ist die Wirklichkeit, die gilt, wenn Gott gilt, der Herr und Vater. Nichts Anderes. Man hat die Bergpredigt sodann, im striktesten Gegensatz zu ihrem Sinne und Willen, zu einer Summe von Regeln und Vorschriften gemacht. Sie ist aber etwas ganz Einheitliches und Einfaches: Sie ist der Weg Gottes im Gegensatz zu dem Weg der Welt und dem Weg der Religion wie der Moral. Und endlich hat man in der Auslegung der Bergpredigt den gleichen fundamentalen Fehler begangen, wie in der der Gleichnisse Jesu: Man hat sie rein individualistisch gedeutet, das heißt rein als Verheißung und Forderung für den Einzelnen, und hat das, was wir mit einem freilich etwas belasteten Worte ihren sozialen Sinn nennen können und der, wie in der ganzen Botschaft Jesu, der fundamentale ist, fast völlig übersehen. Dieses dreifache Mißverstehen der Bergpredigt hat für die Sache Christi verhängnisvolle Wirkungen gehabt. Darum ist die Wiederherstellung ihres echten und ursprünglichen Sinnes von großer und zentraler Wichtigkeit.
Die Bergpredigt ist die unerhörte Botschaft von der Revolution der Welt durch Gott. Als solche kehrt sie wieder. Tolstoi hat sie einst wieder entdeckt; nun wird sie durch die Weltkatastrophe und die Weltrevolution neu in den Vordergrund gerückt. Sie kommt wieder und leitet die radikale Erneuerung der Sache Christi ein, die der letzte Sinn dieser Zeit ist. Die Bergpredigt lebt. Sie tritt zurück, wenn das Christentum herrscht; sie tritt hervor, wenn Christus und das Reich Gottes durchbrechen. Diesen Sinn der Bergpredigt versucht die vorliegende Deutung derselben herauszuarbeiten. Sie will nicht eine historisch-exegetische Erklärung für Theologen und Halbtheologen sein, obschon sie das voraussetzt, was die Schriftgelehrsamkeit sagen kann. Sie ist sich gegenüber dem übergewaltigen Thema ihres Ungenügens voll bewußt; aber sie will nur ein Versuch sein, nur eine kräftige Anregung. Möchte sie das sein! Die Deutung der Bergpredigt Jesu bildet eine Ergänzung zu der Deutung der Gleichnisse Jesu, welche der Verfasser kürzlich veröffentlicht hat. Beide Hauptstücke der Botschaft Jesu gehören zusammen. Man kann ihr Verhältnis zueinander etwas summarisch vielleicht so formulieren: Während die Gleichnisse vom Reiche Gottes reden, so die Bergpredigt von der Nachfolge. Selbstverständlich läßt sich die Unterscheidung nicht genau durchführen, weil ja beide Elemente der Botschaft Jesu so eng zusammen gehören; aber sie bezeichnet doch zutreffend sowohl das Wesen jedes derselben, als auch ihren Unterschied. Darum folgt diese Deutung der Bergpredigt so rasch auf die der Gleichnisse. Möge sie ein wenig mithelfen, den neuen Weg zu Christus zu zeigen, den die Welt, es wissend oder nicht wissend, sucht und so jene Revolution Christi fördern, die sowohl die Revolution des Christentums wie die Revolution der Welt bedeutet.
Leonhard Ragaz
DIE MAGNA CHARTA DES REICHES GOTTES
Der Sinn der Bergpredigt
F.Willst du uns nicht Ordnung und Gesetz des Reiches Gottes lehren?
A.Sie finden sich zusammengefaßt in der Bergpredigt Jesu vom fünften bis zum siebenten Kapitel des Evangeliums nach Matthäus. Teile davon enthält auch das Evangelium nach Lukas im sechsten Kapitel und andwerswo.
«Und er zog durch ganz Galiläa, indem er in ihren Synagogen lehrte, die frohe Botschaft vom Reiche Gottes verkündigte und jede Krankheit und jedes Übel heilte. Und es erging der Ruf von ihm durch ganz Syrien. Und sie brachten zu ihm alle, die sich übel befanden, von vielerlei Krankheiten und Beschwerden, von Geisteskrankheit, Neurose und Lähmung Befallene, und er heilte sie. Und es folgten ihm große Massen aus Galiläa und der Fünfstadt, Jerusalem und Judäa und Transjordanien.» (Matthäus 4, 23-25.)
Die Bergpredigt ist nicht ein abstraktes Lehrstück, sondern wächst aus der Not des Volkes und der Verheißung hervor. Sie ist die Hilfe. Und sie ist überall auf den Helfer zu beziehen. Er hat dafür den Auftrag und er verleiht ihr die Kraft. Er redet, wie es zum Schlusse heißt, als «Einer, der Vollmacht hat und nicht wie die Schriftgelehrten». Ob nicht die heutige Weltlage so ist, daß sie als Hilfe gerade das braucht, was die Bergpredigt sagt? Ob nicht der innerste und oberste Sinn der Zeit genau durch das Wort ausgedrückt wird: «Das Reich Gottes ist nahe; kehret um und glaubet der frohen Kunde»?
• Es heißt wörtlich «Reich der Himmel». Das wird gewöhnlich mit «Himmelreich übersetzt. Aber man muß Zweierlei überlegen: Die Juden scheuten sich, das Wort «Gott» auszusprechen und sagten dafür «Himmel» oder «die Himmel». Wir müssen daher «Gott» sagen. Auch versteht man bei uns unter «Himmel» zu sehr das Jenseits; das Reich Gottes aber ist zunächst für die Erde. Es entsteht – und ist entstanden – ein verhängnisvolles Mißverständnis, wenn man «Himmelreich» sagt statt «Gottesreich». Darum ist dieses Wort als Übersetzung das dem Sinne nach allein richtige.
Die große Umdrehung
«Wie er nun die Massen sah, stieg er auf den Berg hinauf, und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm, und er öffnete seinen Mund, lehrte sie und sprach:
Selig sind die Armen [im Geiste] ; denn ihrer ist das Reich Gottes.
Selig sind die Gütigen; denn sie werden die Erde besitzen.
Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit;
denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie sollen Barmherzigkeit empfangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie sollen Gott schauen.
Selig sind die Friedeschaffer, denn sie sollen Söhne Gottes heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn ihrer ist das Reich Gottes.
Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch
alles Schlimme gegen euch sagen um meinetwillen. Freuet euch und jubelt;
euer Lohn wird groß sein bei Gott; denn so haben sie die Propheten verfolgt,
die vor euch gewesen sind.» (Mat 5, 1-12.)
F. Ist das nicht die Umkehrung dessen, was man sonst denkt und tut? Wie können die Armen, die Gütigen, die Leidenden, die Hungernden und Dürstenden, die Verfolgten und alle Andern dieser Art selig gepriesen werden?
A. Sie können es auf Grund des offenen Geheimnisses, das den Sinn der ganzen Bergpredigt bedeutet: Sie orientieren sich an Gott, statt an der Welt, an dem Gott, der unser Herr ist und unser Vater – und gewinnen damit höchstes Glück. Das aber bedeutet in der Tat eine Umdrehung des Denkens und Tuns um hundertachtzig Grad. Umdrehung heißt Revolution. Darum können wir sagen: Hier haben wir die Weltrevolution, die wahre, vor uns.
F. Willst du sie uns zeigen?
A. Es ist in der Tat eine völlige Umkehrung des Denkens und Tuns der Welt. Am Anfang der Bergpredigt wie des ganzen Evangeliums vom Reiche Gottes steht die Armut. Es heißt: «Selig sind die Armen; denn ihrer ist das Reich Gottes.» Das ist eine ungeheure Tatsache, die die Welt noch keineswegs versteht. Sie geht auch ganz gegen den Sinn der Welt. Denn die Welt will Reichtum und wird davon unselig, wie vor Augen liegt. Sie geht daran zugrunde. Dem stellt Jesus die gewaltige Tatsache und Ordnung des Reiches gegenüber: «Wer zu Gott kommen will, muß arm werden; wer Gott hat, wird arm, aber darin reich.»
F. Welche Armut ist gemeint? Bloß die geistige, oder auch die materielle? Heißt es nicht eigentlich: «Selig sind, die geistlich arm sind?» Warum denn übersetzen: «Selig sind die Armen» und das «geistlich» weglassen?
A. Aus guten Gründen! Es heißt im Lukasevangelium (6, 20) einfach «die Armen » («Selig seid ihr Armen»). Das hat einem Späteren nicht gepaßt und er hat «geistlich» oder wörtlich «im Geiste» an den Rand des Textes geschrieben. «Die Armen» aber ist allein bibelgemäß.
F. Also sind es bloß die materiell Armen?
A. Auch wieder nicht. Es ist beides gemeint: materielle Armut, gewiß, aber nicht im Sinne von Bettelarmut. Eher noch im Sinne von Proletariat, doch wäre auch das eine Verengerung dessen, was Jesus meint. Es ist auch nicht bloß etwa der Gegensatz zu Besitzbürgertum und Bourgeoisie. Schon das Alte Testament, besonders in den Psalmen, redet von den «Armen» im Gegensatz zu den beati possidentes. Es sind die kleinen Leute, die in bescheidensten Verhältnissen Lebenden, die Bedrückten und Belasteten, auch oft genug Vergewaltigten und Enterbten. Aber es gehören zu ihnen auch alle die von dem herrschenden weltlichen und religiösen Zustand nicht Befriedigten, auf Gottes Kommen Wartenden und darum vielfach Leidenden und Entbehrenden. Schon darum ist es aber auch geistige (oder «geistliche») Armut. Es ist die Haltung des Hungernden und Dürstenden, des vor Gott Kindlichen und Demütigen. Es ist, prägnant ausgedrückt, der große Gegensatz zum Besitz überhaupt.
F. Aber doch nicht im Sinne von unserem »Geistesarmut», von Armut an Bildung, an Gedanken und Denkfähigkeit?
A. An «Bildung» vielleicht, jedenfalls wenn man dabei bloß an Schulung, Wissen, künstlerische und wissenschaftliche Kultur denkt. Es ist jedenfalls Abwesenheit einer Haltung, die sich solchen Besitzes bewußt und darauf stolz oder besser: eitel ist und die wir heute Intellektualismus, Ästhetizismus und ähnlich nennen würden. Aber nicht Mangel an geistigem Leben und geistigem Verständnis im tieferen Sinne. Im Gegenteil: Nicht die «Reichen», die materiell und «geistlich» Reichen, in ihrem Hochmut, ihrer Sicherheit, ihrer Herzverfettung verstehen Gott, sondern bloß die «Armen». Sie allein können das Reich fassen. Das gilt von den Einzelnen wie von der Klasse. Und so meint es überall die Bibel. «Eher kann ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen als ein Reicher in das Reich Gottes.» Matthäus, 19, 23-24.
F. Ist das ein unverbrüchliches Gesetz? Gibt es davon keine Ausnahmen?
A. Jesus antwortet: «Bei Menschen ist’s unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich.» Jedoch kann ein Reicher nur ins Reich Gottes eingehen, wenn er – arm wird. Denn nur als Armer kann man Gott fassen. Und umgekehrt: wenn man Gott faßt, wird man arm. Aber das ist der Weg zum wahren Reichtum und damit aus der Unseligkeit zur Seligkeit. Denn Gott macht reich. Er allein. Er macht unendlich reich. Er gibt dem, der ihn hat, alles. Er macht ihn selig. Das ist die Umkehrung um hundertachtzig Grad. Wer aus Gott lebt, statt aus der Welt, der wird unendlich arm und unendlich reich. Das ist das offene Geheimnis. Das ist der Weg Jesu selbst und der Weg des Franziskus. Das muß der Weg unserer Welt werden: aus dem Reichtum, der sie unselig macht, zu der Armut, aus welcher Reichtum und Freude quillt. Und auch eine neue Kultur, im höchsten Sinne, das, was man einmal mit einem freilich ungenügenden Ausdruck proletarische Kultur nannte. So wird den Armen das Reich Gottes verheißen und zwar für die Erde, nicht erst für den «Himmel». Das ist die Weltrevolution Jesu. Sie ist erst im Aufdämmern, wird aber durch diejenige, die heute schon im Gange ist, gewaltig gefördert werden.
F. Gilt sie also nicht nur für das politische und soziale Leben?
A. Sie gilt für alles Leben. Vor allem auch für die Religion. Auch hier und hier erst recht, trennt jeder Besitz, oder vermeintliche Besitz, von Gott und auch vom Bruder. Es muß ihn aufgeben, wer zu Gott kommen will. Er macht auch nicht fröhlich, sondern «mürrisch». Das gilt vom sittlichen Besitz, von wirklicher oder eingebildeter Tugendhaftigkeit. Auch sie ist bloß eine Last, macht nicht selig und trennt von Gott und dem Bruder. Darum kommen die Zöllner und Sünder – und sogar auch die Dirnen Matthäus 21, 31- eher ins Reich Gottes als die Pharisäer und Schriftgelehrten. Das gilt auch vom kulturellen Besitz. Er macht nicht wirklich reich, macht die Seele eher arm. Erst wenn wir an alledem vor Gott und in Gott arm werden, strömt sein Reichtum aus, sein Leben, seine Freiheit; erst dann ertönt das «Selig». Das ist der Weg vom Reiche der Welt in das Reich Gottes – die große, eigentliche Weltrevolution.
F. Wird sich dieser Weg je öffnen?
A. Er öffnet sich heute. Das Reich alles Besitzes stürzt im Gericht zusammen. Wir werden von selbst arm, werden aber von der Armut zu Gott gelangen und darin reich werden.
F. Gilt das nur von der Gesamtheit, oder auch vom Einzelnen?
A. Es gilt gleichmäßig von beiden, von dem Einzelnen und von der Gesamtheit. Aber jedenfalls muß das Christentum zuerst diese Wahrheit lernen und diese Umdrehung um hundertachtzig Grad machen. Alle seine Großen haben das gewollt, Franziskus, Dante, Tolstoi, auch alle Reformatoren, besonders die vor, neben und nach der offiziellen Reformation. Mit dem Kampf gegen den Ablaß aber hat auch diese, nicht zufällig, eingesetzt. Es gilt an Stelle der Besitzeswelt die Gotteswelt zu setzen, welche die rechte Menschenwelt wird. Das geschieht, wenn man wieder das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde versteht. Selig sind die Armen, denn ihrer ist das Gottesreich!
F. Wie gehört dazu das «Selig sind die Leidenden, denn sie sollen getröstet werden»?
A. Es liegt auf der gleichen Linie. Auch die Freude kommt nur von Gott. Glück suchen von Natur alle Menschen, aber es macht nicht – glücklich. Es ist Besitz und macht nicht froh. Das Leid nimmt diesen Besitz weg und führt zu Gott. Darum kann nur ganz freudig werden, wer leidet, wer gelitten hat. Darum können nur die leidenden Massen das Reich Gottes erfassen. Darum kommt die große Erlösung nur durch schwerste Not. Gerade heute!
F. Will aber das Reich Gottes nicht Freude? Heißt Evangelium nicht frohe Botschaft?
A., Gewiß. Darum werden ja auch die Leidenden selig gepriesen. Nicht einfach um des Leidens willen. Das Leiden ist nicht Selbstzweck. Aber die Welt bringt Leid. Auch der Kampf um das Reich Gottes bringt Leid. Da ist dann der große Trost, daß das Leid überwunden werden kann und soll, ja, daß es ein Weg werden kann und soll, der besonders rasch zu Gott führt und besonders nahe zu ihm und damit zur Freude. Das Reich Gottes, Gott selbst, ist überall Freude, aber so wie wir Menschen sind, gelangen wir zu Gott nur auf dem Wege durch die Tiefe des Leides. Wer jedoch zum wirklichen Gott, dem Herrn und Vater gelangt, muß freudig sein. Alles unfrohe Wesen ist ein Zeichen von Gottesferne. «Es ist unmöglich, daß nicht freudig sei, wer an den Herrn glaubt.» (Augustinus.) Selig sind die Leidenden, denn sie sollen getröstet werden.
F. Gilt Ähnliches von der folgenden Seligpreisung: «Selig sind die Gütigen, denn sie werden die Erde besitzen»? Warum soll es übrigens statt «Sanftmütige» «Gütige» heißen?
A. Das Wort «sanftmütig» wird meistens zu weichlich verstanden, als bloßes Nachgeben, als bloßes Schweigen, Sichdreinfinden, als bloße Passivität, als bloßes Dulden, als Abwesenheit von Kampf für das Rechte, kurz, als eine nicht nur unheroische, sondern auch unmännliche Sache. Damit aber wird die Art und Meinung Christi verhängnisvoll verfälscht. Denn auf diese Weise ist Christus selbst nicht sanftmütig. Er ist ein Mann, ein Kämpfer, ein Held. Er streitet, greift an, er zürnt, er ist leidenschaftlich; er ist, wo es sein muß, scharf und hart wie ein Schwert. «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern Schwert.» Matthäus 10, 34. Darum müssen wir, in seinem Geiste, eine andere Übersetzung suchen, also etwa: «Selig sind die Gütigen», oder dann «Selig sind die Milden», vielleicht auch: «Selig sind die Gewaltlosen».
F. Kann man das Letztere nicht auch weichlich und passiv verstehen?
A. Man kann es, aber man muß es freilich nicht. Und man muß doch an Gandhi denken, an Tolstoi – sind das etwa weichliche und passive Gestalten? Und gar Jesus selbst! Aber sagen wir also lieber: «Selig sind die Gütigen».
F. Was bedeutet denn diese Seligpreisung?
A. Sie richtet sich gegen ein drittes Grundstreben der Welt, gegen die Gewalt, und geht damit auf der gleichen Linie wie die zwei ersten. Auch die Gewalt ist ein Besitz. Sie rafft Herrschaft an sich. Sie will unterjochen. Aber auch sie macht nicht froh. Kein Gewalttätiger ist je froh gewesen, weder gewalttätige Völker, noch gewalttätige Einzelmenschen. Denn auch Gewalt trennt von Gott und von den Menschen. Sie will die Erde erobern und kann sie doch nicht erobern, oder doch wenigstens nicht behalten. Sie ist in sich nichtig. Sie stürzt dahin vor dem Geiste, vor der Wahrheit, vor der Freiheit, vor dem Rechte. Sie stürzt vor allem dahin vor dem Leiden um der Gerechtigkeit willen. Christus siegt, nicht Cäsar. Sein Reich behält das letzte Wort. Und mit ihm siegen alle, die seinen Weg gehen. Das Kreuz ist stärker als das Schwert, das Ohnmächtige stärker als das Mächtige, das «geschlachtete Lamm» stärker als der Löwe. Die Welt gehört zuletzt dem Geist, der Freiheit, der Wahrheit, der Liebe. Und wenn, wer Gewalt sucht, von Gott getrennt wird, so kommt umgekehrt der, welcher sich davon scheidet, zu Gott. Er wird durch Armut reich und froh – selig. Auch umgekehrt: Wer zu Gott kommt, kann kein Gewalttäter mehr sein. Gewalt übt man nur, wenn man Gott nicht kennt, den Herrn, sondern meint, alles selber machen zu müssen und zu können. Wer Gott kennt, der kennt eine andere Macht und vertraut auf sie. Gewalt kann nur üben, wer Gott nicht ehrt, den Herrn, der auch der Vater ist. Darum ist die heutige Herrschaft der Gewalt ein klares und massives Zeichen der Abwesenheit aller echten Gottesfurcht wie alles echten Gottvertrauens, und alle Vergottung von Gewalttätern Götzendienst. Wer Gott ehrt, der ehrt auch das heilige Recht des Andern, des andern Menschen, des andern Volkes, der andern Rasse, der andern Religion. Und ist darin froh – selig. Er weiß auch, daß Gott das letzte Wort behält; er weiß, daß sein Reich herrschen und Christus siegen wird. Selig sind die Gütigen, denn sie werden die Erde besitzen.
F. Aber sie sind doch solche, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit – ist das nicht ein Leiden? Wie können sie denn Selige sein?
A. Eben als Leidende; denn die sollen ja getröstet werden. Alle Sattheit ist eben auch Besitz – ist Folge eines wirklichen oder vermeintlichen Besitzes. Und sie trennt darum von Gott und dem Menschen. Auch geistige Sattheit. Und sie macht darum unfroh. Es gibt aber nichts Froheres als das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit.
Es gehört auch zum Wesen der Welt, daß sie hungert und dürstet. Sie hungert und dürstet nach dem, was sie als Leben empfindet. Dieses sucht sie auf allen möglichen Wegen. Sie sucht es im Gelde, in der Macht, in der Ehre, im Genuß, in der Sinnlichkeit, im Geiste (aber in weltlichem Geiste), in der Kunst, in der Wissenschaft, nicht zuletzt in der Religion – und findet es nicht. Denn dieses Hungern und Dürsten ist unendlich. Es gibt nur eine Quelle, die diesen Durst löscht, es gibt nur ein Brot, das diesen Hunger stillt: das ist das Trachten nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes.
F. Was ist unter Gerechtigkeit zu verstehen? Etwa bloß das Recht?
A. Auch dieses. Aber dazu der ganze Inhalt des Reiches Gottes, seine Verheißung wie seine Forderung, sagen wir in diesem Zusammenhang: die Sache Gottes und des Menschen, welche auch die Sache Christi ist.
F. Aber wird man denn satt, wenn doch klar ist, daß dieses Streben nie zum Ziele kommt? Denn wo bleibt die Gerechtigkeit der Welt? Wo die eigene?
A. Schon das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit macht satt. Das ist der Unterschied zwischen dem Hungern und Dürsten nach Gott und dem Hungern und Dürsten nach der Welt. Und im Glauben an Gott hat man ja schon die Erfüllung. Darum gibt es kein notwendigeres Brot und keinen notwendigeren Trank für die Seele der Völker wie des einzelnen Menschen und keine größere Freude, als das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit. Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit!
F. Und die Barmherzigen, die Barmherzigkeit empfangen?
A. Es ist immer die gleiche Linie. Der Unbarmherzige will sein Recht haben. Er will es durchtrotzen, eintreiben, auf gröbere oder feinere Weise. Es ist sein Besitz, aber es trennt ihn damit von Gott und den Menschen und macht unfroh. Wer aber sein Recht aufgibt, der kommt zu Gott und erhält großen Lohn. Und umgekehrt: wer zu Gott kommt, dem Herrn und Vater, kann nicht mehr wie Shylock auf seinem Schein bestehen. Seinem eigenen Recht tritt das Recht des Andern entgegen, das Recht des Menschen und des Bruders. Er wird barmherzig.
F. Darf man denn nie Recht suchen?
A. Man darf es, aber auf die rechte Weise und in Barmherzigkeit.
F. Empfängt man Barmherzigkeit wirklich nur, wenn man selbst barmherzig ist? Ist Gott nicht der Gott der Gnade?
A. Gewiß, aber wir können die Gnade nur empfangen, können die Gnade nur verstehen, wenn wir selbst Gnade üben. Wie es das Gleichnis vom Schalksknecht sagt. Matthäus 18,21-35. Es besteht zwischen Gott und uns eine Wechselbeziehung. Gott richtet in einem bestimmten Sinne sein Verhalten nach dem Verhalten des Menschen. Auch zu dessen Erziehung. Wer Barmherzigkeit empfangen will, muß darum selbst Barmherzigkeit üben. Und selig ist er, wenn er es tut, wenn er nicht auf seinem Recht ohne Notwendigkeit besteht, als auf seinem Besitz, sondern es fortgibt an Gott und dafür Gottes Recht empfängt, an seinem Reich der Liebe Anteil bekommt. Welches Glück! Welche Befreiung! Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit empfangen!
F. Geht es auf der gleichen Linie weiter zu dem: «Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen»? Was heißt, «reinen Herzens» sein? Welches Herz ist ganz rein? Und was heißt: «Gott schauen»? Ist dabei an das Jenseits zu denken?
A. Dies keineswegs. Sondern das heißt: Gottes Wirklichkeit erfahren, Gottes Macht und Treue erleben. Und reines Herzens sein, heißt nicht, vollkommen, makellos, fehlerlos sein, sondern aufrichtig sein, gerade auf das Ziel des Rechten gerichtet, ohne Falsch, ohne Trug, ohne unreine Beweggründe des Wollens und Strebens, als da sind: Geltung, Ehre, Gewinn und Ähnliches. Damit kommen wir von selbst auf den Sinn dieser Seligpreisung. Auch das was sie verneint, ist Sache der Welt: Unreinheit des Herzens, Streben nach Geltung, Macht, Gewinn jeder Art, auch nach Genuß jeder Art. Auch das wird zum Besitz, den die Welt nicht gerne fahren läßt. Sie kommt aber damit von Gott und vom Menschen ab und wird nicht froh. Du wirst scheinbar sehr arm, wenn du diesen falschen Schatz aufgibst. Aber du wirst eine schwere Last los. Du kommst zu Gott und bekommst seine Unendlichkeit. Und du wirst ihn schauen; du wirst erleben und erfahren, daß er ist. Du wirst erleben und erfahren, daß er das letzte Wort behält. Du wirst unendlichen Segen erleben und unendliches Gelingen erfahren. Bleibe nur fest! Wirf dein Vertrauen nicht weg!
F. Aber wenn Niederlage und Enttäuschung kommen?
A. Dann wirst du auch darin froh sein, deiner Sache gewiß auch in Not und Tod. Du wirst gerade darin Gott kennen lernen. Und auch hier wird es umgekehrt sein: In dem Maße als du Gott suchst und findest, wird dein Herz frei von der Unreinheit der Welt und selig. Was von dem einzelnen Menschen gilt, das gilt von jeder Sache; es gilt vor allem von dem Kampf um die Sache Gottes und der Menschen. Bleibe darin reines Herzens, halte dich frei von der Unreinheit der Nebenmotive, und du wirst Gott schauen. Das ist die rechte Theologie! Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
F. Und die «Friedfertigen»? Warum soll es heißen «Friedeschaffer»?
A. Weil es im Original wirklich so heißt. Die Übersetzung «Friedfertige» verwandelt das Aktive ins Passive, das Männliche ins Weichliche und bezeichnet damit eine Hauptlinie der Entartung der Sache Christi. Auf der gleichen Linie wird dann auch statt «Söhne Gottes» «Kinder Gottes » gesetzt, aus dem Großen das Kleine, aus dem Freien das Abhängige gemacht und damit wieder der Geist der Seligpreisung verfälscht.
F. Was bedeutet denn diese?
A. Sie bedeutet wiederum die Fortsetzung der Hauptlinie. Die Welt sucht ihr Ich. Sie will vor allem sich selbst, ihre Ehre, ihre Macht, ihr vermeintliches Recht. Das ist ihr Besitz. Aller Besitz aber erregt – das ist die Fortführung des Hauptgedankens – Streit, der im Krieg seine massivste Form annimmt. Damit ist dann die Trennung von Gott und Mensch vollendet – und die Unseligkeit. Welche Herrlichkeit aber ist es, hier durchzubrechen! Welche Größe! Wahrlich, die welche das tun, sind größer als die Helden des Krieges. Sie sind starke Söhne Gottes. Und wie herrlich ist der Friede selbst! Welch ein Glanz von Gott her! Selig sind darum, mitten in Kampf und Anfechtung aller Art, die Friedeschaffer, die Friedenskämpfer. Aber es ist auch hier umgekehrt so: Wenn man zu Gott kommt, dem wirklichen Gott, dem Herrn und Vater, dann kann man gar nicht anders, als den Frieden wollen. Denn er ist der Friede. Dann vergeht das Selbst mit seinem Anspruch vor dem Anspruch Gottes und des Nächsten, sei es das Selbst eines Einzelnen, sei es das eines Volkes. Dann vergeht der Haß vor dem Gott, der der Vater Aller ist, aller Einzelnen und aller Völker. Dann strahlt Seligkeit auf. Vergeben ist Seligkeit. Vor Gott, dem Herrn und Vater, vergeht der Krieg, aller Krieg, von ihm aus geht Friede, Völkerfriede, sozialer Friede, Seelenfriede – Seligkeit!
F. Warum heißt es aber «Friedeschaffer» statt «Friedfertige»?
A. Das ist wichtig. Wir sollen eben nicht nur selbst Frieden haben und vielleicht die Welt laufen lassen, wie sie laufen will, sondern sollen Frieden schaffen, sollen für den Frieden kämpfen. (Man könnte das Wort Jesu wohl auch mit «Friedenskämpfer» sinngemäß übersetzen.) Und nur der Friedeschaffer und Friedenskämpfer wird selig.
F. Wie kann man Frieden schaffen? Durch Nachgeben, Geltenlassen, Zudecken der Gegensätze, Schweigen zu Not und Unrecht?
A. So verstehen es viele Christen. Aber gerade das Gegenteil ist richtig. Frieden schafft man, für den Frieden kämpft man durch die Wahrheit. Denn die Wahrheit ist die Ordnung Gottes, und nur wo die Ordnung Gottes erfüllt ist, wo die Dinge in Ordnung sind, ist Friede. In diesem Sinn spricht Jesus: «Ich bin nicht gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen, sondern Schwert».
F. Aber das ist ja dann Kampf, Kampf aber macht doch nicht selig, sondern unselig?
A. Ein großer Irrtum! Krieg macht unselig, Kampf macht selig. Es gibt ein Wort im heiligen Buch des Islam, das dem Worte Jesu recht nahe kommt: «Das Paradies ist unter dem Schatten des Schwertes».
F. Aber können wir immer Frieden mit den Menschen halten – auch wenn sie uns «schmähen und verfolgen und lügnerisch alles Schlimme über uns sagen, um der Gerechtigkeit willen?»
A. Ja gerade dann. Hier vollendet sich die Linie, die von der Armut zur Seligkeit führt. Denn auch unsere Ehre ist nach dem Sinn der Welt Besitz, der uns von Gott und damit vom Menschen trennt. Solange wir ängstlich unsere Ehre hüten, werden wir nicht froh. Wir werden arm. Denn wir haben nie genug davon und oft sogar sehr wenig. Aber wenn wir sie hinter uns lassen und zu Gott gehen – gerade in Schmähung und Verfolgung -‚ dann leuchtet Seligkeit auf, dann werden wir zuerst auch arm, aber darauf reich. Denn dann bekommen wir statt der Ehre der Menschen Ihn und seine Ehre. Dann werden wir mit der kostbarsten Krone gekrönt. Denn es gibt keine kostbarere Krone des Lebens als das Leiden um der Gerechtigkeit willen. Jede Schmähung verwandelt sich dann in eine Ehrung, jede Verfolgung in eine Befreiung. Wir kommen damit auch in die Gesellschaft der Edelsten unseres Geschlechtes. Es widerfährt uns die gleiche Adelung wie jene sie empfangen haben. Freuet euch, jauchzet! Kein Leben ist gekrönt, das nicht irgendwie diese Krone erlangt hat. Freilich ist es menschlich nicht leicht, diese Erfahrung zu machen. Sie ist nur von Gott, dem Herrn und Vater aus möglich. Von ihm aus aber möglich. Vor ihm versinkt alle Ehre der Welt; in ihm leuchtet seine Ehre auf. Darum ist das die tiefste Quelle aller Freudigkeit; darum ist das die höchste Seligkeit. Darum haben Märtyrer in den Flammen der Scheiterhaufen gesungen und gejubelt.
Selig seid ihr, wenn ihr um Gerechtigkeit willen verfolgt werdet; denn euer ist Gott und sein Reich. So geht die eine Linie durch alle Seligpreisungen. Das «Selig sind die Armen», recht verstanden, ist das Vorzeichen von allen. Sie alle zeigen die große Umkehr von der Welt zu Gott, dem Herrn und Vater. Das ist ihr einfacher, tiefer und gewaltiger Sinn – das die Revolution der Welt durch Gott, welche Reich Gottes heißt, das die Welt Gottes.
Geltung und Erfüllung der Seligpreisungen
F. Ist das die ganze Fülle des Inhalts und Sinnes der Seligpreisungen?
A. Es ist nur die Hindeutung auf einen Schatz, der unendlich ist wie Gott selbst, der Herr und der Vater. Überall aber ist es das Eine: die Umdrehung um hundertachtzig Grad von der Welt zu Gott, dem Herrn und Vater, die wahre Revolution der Welt. Die Seligpreisungen sind nur einige wichtige Beispiele zur Veranschaulichung dieser Grundtatsache aller geistigen Wirklichkeit. Du mußt sie, die Welt muß sie in allem erfassen und veranschaulichen lernen.
F. Ist die Verheißung, die mit den Seligpreisungen verbunden wird, etwas, das sich erst in der Zukunft erfüllt oder schon in der Gegenwart?
A. Beides. Das Reich Gottes, dessen Ausdruck sie sind, ist Verheißung und Erfüllung zugleich, es ist zukünftig und gegenwärtig zugleich. Es ist gekommen und wird kommen. Es ist «genaht». Es kann empfangen werden. Es ist «mitten unter uns», wie Jesus selbst sagt. Lukas 17, 21. Seine Kräfte sind aufgebrochen, und wir können sie haben. Aber es wird sich noch in größerer Macht und Fülle offenbaren. Das Reich Gottes ist ja nichts Anderes als die Herrschaft Gottes, des Herrn und Vaters. Gott ist jetzt schon da, er ist schon jetzt der Herr und Vater. Wer aus ihm lebt, wer ihn über sich herrschen läßt, der hat jetzt schon Teil an ihm, Völker und Einzelne. Aber er kommt zugleich. Seine Herrschaft naht. Seine Offenbarung ist noch nicht fertig. Sein letztes Wort ist noch nicht gesprochen. Er ist der, der da ist, der da war und der da kommt. Dementsprechend sind die, welchen die Seligpreisungen gelten. Sie sind Arme und Reiche, Wartende und Gestillte, Hungernde und Gesättigte. Sie harren auf das Reich und haben es bereits. Ihr Gott ist kommend und ist da. Wer nur das Eine sieht, sieht nur die Hälfte der Wahrheit und irrt sehr. Die Empfänger der Verheißung werden in der Erfüllung selig sein, aber sie sind schon selig; es heißt nicht: «Selig werden sein», sondern: «Selig sind».
F. Gelten die Seligpreisungen allen Menschen?
A. Sie sollen einmal Allen gelten, und gelten sozusagen grundsätzlich Allen. Denn Gott will der Herr und Vater Aller sein, und sein Reich soll zu Allen kommen. Aber jetzt gelten sie bloß den Jüngern. Denn sie allein haben die Voraussetzung für ihre Geltung: daß sie Gott, den Herrn und Vater, haben und aus ihm leben, daß sie das Reich Gottes erkannt und angenommen haben. Für Andere haben die Seligpreisungen wie die ganze Bergpredigt keinen Sinn. Aber Alle können schon jetzt Jünger werden. Darum sind die Seligpreisungen wie die ganze Bergpredigt auch für Alle als Einladung: Wählet zwischen Welt und Gott, zwischen Unseligkeit und Seligkeit!
F. Aber es ist noch einmal die Frage zu stellen: Gelten die Seligpreisungen schon für die Gegenwart, für die Gegenwart der damaligen Jünger und für die unserer Tage und
nicht erst für das vollendete Reich Gottes? Hat Jesus nicht das vollendete Kommen des Reiches Gottes in der Nähe gesehen, und haben darum seine Verheißungen wie seine Anweisungen nicht den Sinn, daß sie erst für jenen Zeitpunkt, also für das irdische Jenseits gelten? Meinen das nicht manche Theologen?
A. Freilich. Aber es ist ein offenkundiger großer Irrtum, ein künstliches Gebilde der Theologie, das zum Teil auch dadurch entstanden ist, daß man besonders die Forderung Jesu (von der wir reden werden) in eine falsche Höhe hinaufgesteigert hat, sodaß sie dann unmöglich oder doch erst im vollendeten Reich Gottes erfüllbar schien. Sie ist aber durchaus erfüllbar. Es ist auch eine Unmöglichkeit, anzunehmen, Jesu habe an seine Jünger eine Forderung gestellt, die sie erst später erfüllen könnten, etwa wie Schiffskapitäne eine Anweisung für ihre Fahrt bekommen, die sie erst auf hoher See öffnen dürfen. Jesu Forderung ist vielmehr jetzt und hier zu erfüllen, wie seine Verheißung für jetzt und hier gilt. Denn beide entspringen aus der Tatsache, daß Gott ist, der Herr und der Vater. Er ist aber heute, wie er war und sein wird. Und sein Reich ist genaht. Es ist mitten unter euch. Alle aber, die es glauben, die haben es. Und denen gilt Verheißung und Forderung. Das ist der sonnenklare Sachverhalt.
F. Aber ist das Reich Gottes nach Jesu Botschaft nicht doch auch erst im Kommen?
A. Auch das ist richtig. Das Reich ist zwar angebrochen, aber es muß sich noch erfüllen. Und darum ist es auch für die Jünger zwar schon da, aber seine Vollendung steht noch aus. Es gilt aber die Forderung schon heute und gilt auch die Verheißung. Die Seligpreisungen enthalten nichts von der Aufhebung des Todes, die freilich erst mit der Vollendung des Reiches eintreten kann und soll, aber sie enthalten das, was das Reich heute schon gibt. Denn heute schon sind es die Armen, denen es gehört; heute sollen die Leidenden getröstet, die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden gesättigt werden; heute muß für den Frieden gekämpft werden; heute dürfen die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten fröhlich und getrost sein. Im vollendeten Reiche Gottes ist das alles nicht mehr nötig. So sind die Seligpreisungen freilich auch ein Hinweis auf das Kommen des Reiches, nicht bloß auf das Gekommensein, aber sie fordern doch ein Verhalten von heute und bieten eine Verheißung von heute. Sie bedeuten, noch einmal, die Grundeinstellung des Menschen, der Gott, den Herrn und Vater, kennt und anerkennt und der darum freilich auch an das weitere Kommen seines Reiches glaubt.
Wir wiederholen also, was wir darüber vorhin ausgeführt haben. Die Bergpredigt gilt schon heute. Ihre Wahrheit ist ewiger und unbedingter Art, an keine Zeit und keine Umstände gebunden.
F. Aber wird denn die Bergpredigt tatsächlich verwirklicht?
A. Ich antworte: Werden die Zehn Gebote verwirklicht? Gelten sie nicht dennoch?
•Wer sich für dieses «eschatologische» Problem näher interessiert, der sei auf die beiden Schriften: «Die Botschaft vom Reiche Gottes» und «Jsrael, Judentum, Christentum« von Leonhard Ragaz verwiesen.
Die Verkündigung: Salz und Licht
F. Wie sollen wir, wenn wir diese Revolution an uns erlebt haben, sie Andern vermitteln?
A. Darauf antwortet Jesus: «Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz salzlos [,dumm‘] wird, womit soll gesalzen werden? Es taugt nicht mehr als daß es hinausgeworfen und von den Leuten zertreten werde.
Ihr seid das Licht der Welt. Es kann eine Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und stellt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; so strahlt es Allen denen, die im Hause sind. So soll euer Licht vor den Augen der Menschen strahlen, daß sie eure schönen Werke sehen und euern Vater in den Himmeln preisen.» (Matth. 5,13-16.)
F. Was bedeutet das: «Salz der Erde»?
A. Etwas Großes. Das Salz schützt vor Fäulnis. So schützen die Vertreter des Reiches, die wirklichen Jünger Christi, die Welt vor dem Verfaulen. An den bloßen Kräften der Welt ginge sie zugrunde.
F. Aber können sie das, da sie doch so Wenige sind?
A. Ja. Es kommt nicht auf die Vielen an. Man braucht auch nicht viel Salz, um eine Masse zu salzen. Es genügen darum einige Wenige, um ganze Völker, ganze Zeiten zu retten. Oft genügt sogar Einer. Nur müssen diese Wenigen ganz sein. Das Salz darf nicht «faul», nicht «dumm» geworden sein!
F. Wie kann das Salz denn «dumm» oder «faul» werden? Salz bleibt doch Salz?
A. Es wird «dumm oder faul», wenn es sich mit fremdem Stoff vermischt; dann verliert es seine Kraft.
F. Was bedeutet das?
A. Es bedeutet viel. Denn es bedeutet die einzige wirkliche Gefahr für die Wahrheit und die Sache Christi. Nicht Verkennung, Verfolgung, Niederlage ist ihre Gefahr – die sind vielmehr ein Segen für sie – sondern die Verweltlichung.
F. Was bedeutet diese?
A. Sie tritt in zwei Hauptformen auf. Entweder versucht die Sache Christi die Welt für sich zu erobern, verbündet sich der Welt, trachtet sich die Kräfte der Welt anzueignen: Geld, Macht, Ehre und dergleichen. Oder sie versucht sich der Welt anzupassen, in der Meinung, sie dadurch mit sich zu versöhnen. Man vermindert dann den Ernst der Botschaft. Man gleicht sie der Welt bis zum Verwechseln an. Man schleift die Spitzen, womit sie in die Welt richtend und rettend eindringen sollte, so lange ab, bis sie nicht mehr eindringen. Ja, man treibt es so weit, daß die Sache Christi zur Sanktion der Welt wird, daß man, sie mißbrauchend, damit die Ungerechtigkeit der Welt rechtfertigt, womit sie dann – o satanisches Wunder! – wieder Salz wird, aber im übelsten Sinne, in einem Sinn, welcher dem Sinn des Jesuswortes genau entgegengesetzt ist, nämlich ein stärkstes Präservativ des Bösen, das durch einen «christlichen» Zusatz fester wird und sich besser gegen den Angriff des Gewissens halten kann – daß die Botschaft ihre «Spitze» nicht gegen die Welt richtet, sondern gegen Gott.
F. Aber muß nicht doch die Wahrheit sich den Menschen, auf die sie wirken will, anpassen? Muß nicht ein Lehrer sich den Schülern anpassen? Sagt nicht Paulus, daß er den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche geworden sei? Erklärt er nicht, daß er den Korinthern zunächst nur Milch geben könne, da sie starke Speise noch nicht vertrügen? Vgl. 1. Kor. 9, 19-21 und 1. Kor. 3, 1-3.
A. Das ist nicht diejenige Anpassung, die zu verurteilen ist. Sie ist bloß Anknüpfung, nicht Verleugnung. Das Salz bleibt dabei Salz, nur daß das Salz richtig angewendet wird. Die Wahrheit bleibt Wahrheit und wird nicht Kompromiß. Das Salz behält seine Schärfe. Die Wahrheit muß aber scharf sein, unerbittlich. Sie muß ganz vertreten werden, nicht halb. Sie ist ein Schwert und muß schneiden, muß Wunden schlagen.
F. Ist das nicht gegen die Liebe?
A. Es ist die Vollendung der Liebe. Wahrheit schaffen, für die Wahrheit zeugen, für die Wahrheit leiden ist die höchste und edelste Form der Liebe. So ist sie ja in Jesus
erschienen. Er ist, als die Liebe, die scharfe, kühne, revolutionäre Wahrheit und so das Salz der Erde. Von ihm haben wir das Salz. So bewahrt er die Welt vor dem Verfaulen.
Es gibt eine falsche christliche Liebe, welche in einem gewissen Verschweigen der Wahrheit, in einer gewissen weichen Vergebung, einer gewissen Verschönerung oder Vertuschung der Wirklichkeit ihre Aufgabe sieht. Sie vermehrt erst recht die Fäulnis der Welt, statt sie zu verhindern. Verstehet wohl: Es heißt nicht: «Ihr seid die Butter der Erde» oder der «Zucker der Erde», sondern «Ihr seid das Salz der Erde». Weil das Salz des Christentums so faul geworden ist, weil es so wenig eine Kraft der Wahrheit mehr ist, der rücksichtslosen, tapferen, kämpfenden Wahrheit, darum erfährt es das Los des faul gewordenen Salzes, das hinausgeworfen und von den Leuten zertreten wird. Wir erleben das heute in gewaltigem Maßstab. Wenn das Salz der Wahrheit Christi salzlos geworden ist, gibt es kein Mittel mehr gegen die Fäulnis der Welt. Wenn die Sache Christi selbst faul wird, gibt es nichts mehr, womit man salzen könnte. Die Ersatzstoffe, die man dafür sucht, und die oft Giftstoffe sind, genügen nicht und machen oft die Fäulnis schlimmer. Nur die Sache Christi hat die nötige Salzkraft; weil sie nicht von dieser Welt ist, kann sie die Welt retten.
Lasset die Sache Christi wieder Salz werden, lasset sie auftreten als das, was sie ist, in Gemeinschaften, Bewegungen, einzelnen Menschen, und ihr werdet sehen, wie rasch sie Salz der Erde wird.
F. Kann aber «faul» gewordenes Salz wieder echtes Salz werden? Kann was weggeworfen und zertreten ist wieder gebraucht werden?
A. Im Physischen freilich nicht, wohl aber im Geistigen. Die Sache Christi kann gerade in Versagen, Katastrophe, Verworfen- und Zertretenwerden wieder Salzkraft bekommen, durch Rückkehr zu sich selbst und Abkehr von der Welt: durch Umkehr. Wir erleben vielleicht heute diesen Prozeß; die Sache Christi gewinnt deutlich wieder ihre Salzkraft.
F. Und was bedeutet: «Ihr seid das Licht der Welt»? Wie kann Jesus das von seinen Jüngern sagen, die doch kleine und unbedeutende Menschen sind? Vorher hieß es, das Salz der Erde und jetzt gar das Licht der Welt. Ist das nicht zu groß?
A. Es ist groß, aber es ist Wahrheit. Bedenke: Es heißt nicht «ein» Licht der Welt, im Sinne von weltlichem Geistesglanz, sondern «das» Licht der Welt. Das hat mit rein menschlicher Größe oder Kleinheit nichts zu tun. Das Licht der Welt ist das Reich Gottes und seine Träger. Sie mögen menschlich klein und unbedeutend sein, es ist groß. Vielleicht ist besser, sie seien menschlich betrachtet klein und unbedeutend. Wenn sie zu stark im eigenen Lichte leuchteten, so könnten sie vielleicht nicht auch im Lichte Christi leuchten. Christus aber ist das Licht der Welt. Es gibt kein anderes Licht. Und wer es von ihm holt, der leuchtet und erleuchtet, der strahlt und wird gesehen.
Es ist erstaunlich, wie Menschen, die in natürlicher Beziehung recht unbedeutend wären, in diesem Lichte aufglänzen und weithin leuchten. Wenn wir auf die großen Träger und Trägerinnen der Sache Christi in allen Zeiten und Zonen blicken, so müssen wir von den allermeisten sagen: Kein Mensch wüßte etwas von ihnen, wenn an ihnen nicht das Licht Christi aufgestrahlt wäre. Es allein überstrahlt alles Licht der Welt bei weitem. Für diesen Sachverhalt ist bezeichnend, daß der Apostel, der vorher Saul, der Große, hieß, sich nach der Umkehr zu Christus Paulus, den Kleinen, nannte. Trotz seiner Geistesgröße wüßten heute wenige von ihm, wenn überhaupt jemand, nachdem er aber klein geworden ist, strahlt er als großes Licht durch die Zeiten. Wer recht Christus dient, leuchtet auf als großes Licht. Es ist eine große Sache um einen Jünger Christi. Er ist eine Stadt, die auf dem Berge liegt.
F. Was bedeutet das?
A. Das bedeutet wieder etwas Wichtiges. Wenn eine große neue Wahrheit auftritt, dann werden die Menschen aufmerksam. Sie achten sorgfältig auf ihre Träger. Sie achten besonders darauf, was es für Menschen sind, ob ihr tatsächliches Wesen und Tun, ihre ganze Art und Haltung, ihre Botschaft wirklich bestätigt oder nicht. Tun sie das nicht, so verliert diese Wahrheit den größten Teil ihrer Kraft; tun sie es, dann vermehrt sich diese Kraft wunderbar. Ganz besonders gilt dies von der Sache Christi. Es ist auch heute so: wo sie auftritt, lebendig auftritt, da entsteht ein großes Aufmerken, ein Aufmerken wie sonst auf nichts. Und zwar gerade ein Aufmerken darauf, ob die persönliche Haltung dieser Menschen zu ihrer Botschaft stimme. Die Menschen warten im Grunde auf gar nichts so gespannt, als auf Verkörperung der Wahrheit. Nichts erschüttert sie so stark. Die ersten Jünger und Gemeinden Christi haben weniger durch ihre Botschaft die Menschen erobert, als durch ihr Leben. «Sehet, welch wunderbare Menschen! Welch eine neue Art! Wie sie einander lieben! Welche Frauen sie haben!» Man ging dem Quell eines solchen Wesens nach und kam zu Christus, kam zum Vater. Und ist es nicht so mit Christus selbst? Sind es nicht seine Werke, ist es nicht sein Leben, was seiner Botschaft ihre weltüberwindende Kraft gibt? Ist es nicht seine Reinheit, seine Liebe, sein Glaube, sein Gehorsam, sein Kreuz, was den Menschen Gott, den Herrn und Vater, offenbart? Sagt nicht Christus: «Wer mich siehet, der siehet den Vater», Vgl. Johannes 14,8-9 statt etwa: «Wer mich höret, der höret den Vater»? Darum sollen wir, wenn wir uns zu Christus und zu seiner Sache bekennen, wissen, daß wir damit sofort Gegenstand großer Aufmerksamkeit werden, wenn vielleicht auch nur in der Stille. Dann kommt alles darauf an, ob wir leuchten. Dann kommt alles darauf an, daß unsere Existenz unserer Sache entspricht. In diesem Sinne hat ein großer Zeuge Christi (Sören Kierkegaard) das entscheidende Gewicht darauf gelegt, daß die Vertretung der Sache Christi «existentiell» geschehen müsse, hat sie auch selbst so vertreten und ist damit eine Stadt auf dem Berge geworden, die über die Welt hin und in alle Zukunft hineinstrahlt.
F. Er war jedoch ein großer Geist. Aber wir, die Kleinen?
A. Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, mag klein sein, aber sie leuchtet doch weithin und kann nicht verborgen bleiben. So kannst du, klein und bescheiden nach Art und Stellung, das Licht der Welt sein; ich meine: ein Teil des Lichtes, das in Christus aufleuchtet. Darum trachte ein solches Licht zu sein. Stelle das Licht, das dir von Christus her, vom Reiche her geworden ist, nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, daß es allen strahle, die in den Lichtkreis deines Wesens und Tuns kommen. Du bist ein Apostel – bedenke es! Du vertrittst etwas Außerordentliches: vertrete es durch außerordentliches Wesen. Vertrete es nicht durch das, was auch die Welt leisten kann, sondern vertrete es durch etwas, was von anderswoher kommt und dorthin weist.
F. Ist das aber nicht eine Gefahr? Die Gefahr der Schaustellung? Wenn man mit seinem Heiligsten von den Menschen gesehen werden will, gerät man dann nicht in die Art der Pharisäer, die Jesus so sehr tadelt, also in die Heuchelei? Ist es nicht eine Gefahr für die Seele, ein Beispiel und Muster sein zu wollen und zu sollen? Tun nicht viele sogenannte Christen das wirklich und werden damit unerträglich, stoßen von Gott und Christus ab, statt zu ihnen zu führen? Ist darum nicht das Wort «Euer Licht leuchten lassen» ein Spottwort geworden?
A. Leider. Aber ganz mit Unrecht. Ich übersetze gerade auch darum das «leuchten» durch «strahlen» und übersetze statt: «darum lasset euer Licht strahlen» textgemäßer: «Darum soll euer Licht strahlen». Im übrigen aber ist zu sagen: Es kommt nicht darauf an, ob wir gesehen werden wollen oder nicht, wir werden gesehen, wenn wir die Sache Christi vertreten, und es kommt einzig darauf an, was die Menschen an uns sehen. Das müssen wir bedenken. Wir sind zur Schau gestellt.
F. Sollten wir das aber nicht gerade vergessen, um unsere Unmittelbarkeit zu wahren und der Heuchelei zu entgehen?
A. Wir brauchen und sollen wohl nicht immer direkt an das Urteil der Welt denken, sondern zunächst an das Urteil Gottes. Vor Gott aber haben wir die Verantwortlichkeit dafür, wie die Menschen nach uns die Sache Christi betrachten. Im übrigen aber ist die Auslegung der Welt eine Entstellung, ja Verfälschung dessen, was Jesus meint. Er meint nicht, daß wir diese schönen Werke (so heißt es: «schön», nicht bloß «gut») tun sollen, um selbst von den Menschen Ruhm zu erlangen, sondern daß wir sie tun sollen um Gottes willen, zu seiner Ehre; daß wir mit unserer Sache Ernst machen sollen in unserem ganzen Sein und Tun; daß wir in Allem anders sein sollen als die bloßen Vertreter der Welt. Wir sollen das Heilige nicht bloß in unserm Innern tragen. Auch das Außen soll davon Zeugnis geben. Das Innen kann sich ja nur durch das Außen kundtun. Es wird uns ein Wort Jesu berichtet, das nicht im Neuen Testamente steht und das auf die Frage: «Wann ist das Reich Gottes gekommen» antwortet: «Wenn das Äußere geworden ist wie das Innere und das Innere wie das Äußere.» Wenn aber das Innere nicht ins Äußere tritt, so erstirbt es nach und nach selbst. Denn was geschieht mit einem Lichte, das man unter den Scheffel stellt? Wird es nicht trüber werden und zuletzt ersticken? Umgekehrt aber wird das Innere gestärkt und vermehrt, wenn es auch ins Äußere tritt. Die Flamme leuchtet dann im Sauerstoff des Lebens Gottes auf. Eine Überzeugung und Gesinnung gewinnt mächtig an Kraft, wenn sie sich in Wort (in rechtem Wort) und Tat äußert. Die Flamme wächst durch die Flamme. Glaube, Liebe, Hoffnung, sie alle werden stärker durch die Aussprache, die Kundgebung; die beste Art der Äußerung und Kundgebung aber ist die Tat. Und je mehr Salzkraft sie hat, desto stärker strahlt sie. Das Salz im geistigen Sinne hat die Kraft, die Flamme zu mehren. Die stärkste Form dieses Salzes aber ist das Leiden um der Wahrheit willen, die Tat des Mutes und der Liebe, die nicht von dieser Welt sind.
F. Aber können wir denn «schöne Werke» tun? Geht das nicht über die Kraft des Menschen? Haben nicht Paulus und die Reformatoren gerade dieses Abstellen auf die Werke bekämpft und dafür den Glauben betont?
A. Christus ist mehr als Paulus und die Reformatoren. Diese wollten freilich auch nicht die Werke einfach unterdrücken (und noch viel weniger Paulus), sondern nur die Werke des bloßen Gesetzes, und die Quelle für die rechten Werke öffnen. Darin sind sie aber einseitig geworden und haben damit schweren Schaden gestiftet. Wir müssen darum auf Christus zurückgehen. Auch die «schönen Werke», die er meint, sind nicht Werke des Gesetzes, sondern stammen aus der rechten Quelle, aus Gott. Aber wir können und sollen solche Werke tun. Er sagt es und verlangt es. Wir können sie tun vom Reiche aus und sollen es. Wir tun sie, wenn es uns mit dem Reiche Ernst ist – wenn wir das Reich haben. Und damit erst vertreten wir die Sache richtig. Jesus hat dafür noch einen allerhöchsten Ausdruck: Also soll euer Licht strahlen vor den Augen der Menschen, auf «daß sie eure schönen Werke sehen und euern Vater im Himmel preisen». Das ist das offene Geheimnis: Wo die Menschen solche «schönen Werke» sehen, sei’s im Kleinen, sei’s im Großen, da werden sie dadurch zu Gott geführt. Mehr als durch alles andere. Wo das Außerordentliche geschieht, das durch die Kräfte der Welt nicht erklärt werden kann, da wird darin Gott offenbar. Nicht Worte, Predigten («Verkündigung des Wortes Gottes» genannt), Betrieb, auch nicht bloß Bibellesen und Bibelerklären führen zu Gott, sondern Taten des Glaubens und der Liebe, die aus Gott fließen, das Strahlen der Güte und Reinheit, eine hohe und freie Menschlichkeit, ein bedeutsamer Gegensatz zum Wesen der Welt, sind die rechte Verkündigung. Taten sind das rechte Wort Gottes. Durch Taten redet er, und durch Taten sollen wir von ihm reden. Die Welt ist trotz ihrem Unglauben und ihrem Widerspruch gegen Gott doch auch wieder zum Glauben geneigt. Sie kann einfach nicht dem Göttlichen widerstehen, wo es in Verkörperung auftritt. Sie muß darin, ob sie auch widerstrebe, den Vater im Himmel preisen. Welch ein Aufsehen erregte ein Tolstoi, als ein Graf, ein Millionär, ein weltberühmter Schriftsteller plötzlich all das aufgab um Christi willen! Und einst ein Franziskus, der Ähnliches tat! Und dann ein Gandhi! Ein Kagava! Schaffet eine Welt der Gerechtigkeit des Reiches Gottes und die Menschen werden an Gott glauben. Das ist der Auftrag der Jünger und der Gemeinde.
Zum Reiche gehört die Nachfolge.
Leonhard Ragaz, Die Bergpredigt Jesu
Die Reinheit
Das zweite Beispiel ist ebenso fundamental wie das erste. Es fließt eigentlich aus ihm.
«Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen‘. Ich aber sage euch, daß jeder, der begehrlich auf ein Weib blickt, mit ihr schon die Ehe gebrochen hat in seinem Herzen. Wenn aber dein rechtes Auge dir Versuchung bereitet, so reiße es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, wenn du eines deiner Glieder verlierest, als daß dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde. Und wenn deine rechte Hand dir Versuchung bereitet, so haue sie ab und wirf sie von dir. Denn es ist besser für dich, wenn eines deiner Glieder verloren geht, als wenn dein ganzer Leib in die Hölle geht. Es ist weiter gesagt: ‚Wer sein Weib entläßt, der gebe ihr einen Scheidebrief‘. Ich aber sage euch: Jeder, der sein Weib entläßt, es sei denn wegen Ehebruch, macht sie zur Ehebrecherin, und wer eine Entlassene heiratet, bricht die Ehe. » (5, 27-32.)
F. Wie ist das in diesem Zusammenhang zu verstehen?
A. Wir haben vor uns eine zweite Anwendung des revolutionären Prinzips der neuen Gerechtigkeit. Eines der Zehn Gebote heißt: «Du sollst nicht ehebrechen.» Das ist eine Grundordnung Gottes. Aber in der gesetzlichen Auslegung wird es innerlich aufgehoben. Es verliert seine Unendlichkeit und Unbedingtheit. Wieder wird ein Zaun um eine sittliche Grundordnung gezogen. Nur was innerhalb des Zaunes ist, gilt als Gebot; was außerhalb ist, gilt als Freiland. Die Ehe soll, formell, nicht gebrochen werden, aber erlaubt ist, auf ein fremdes Weib begehrliche Blicke zu werfen. Die Ehe soll gehalten werden, formell, so lange sie besteht, aber sie darf leichthin aufgelöst werden. Es genügt hiefür eine gesetzliche Form. Mit andern Worten: der Ehebruch wird erlaubt, wenn nur die gesetzliche Form gewahrt wird. Und das heißt: diese gesetzliche Form sanktioniert geradezu den Ehebruch.
F. Aber wie soll es denn sein?
A. Es ist auch hier wie im ersten Beispiel. Das Gesetz ist Menschenwerk; an seine Stelle soll das Leben aus Gott treten, die Orientierung an Gott, dem Herrn und Vater.
F. Was bedeutet das in diesem Falle?
A. Das bedeutet sehr viel. Es bedeutet, daß Gott das Weib wie den Mann geschaffen hat, und daß es damit ein unantastbares Heiligtum wird. Es bedeutet, daß Gott die Ehe geschaffen hat, daß der Mensch aus Mann und Weib besteht. Es bedeutet, daß sie die Schöpfung fortsetzen sollen, daß daraus die Familie entsteht, welche die Zelle und Grundform des Reiches Gottes bildet. Es bedeutet, daß nur unter dieser Voraussetzung die Ehe geschlossen werden, Mann und Weib eine Einheit werden dürfen. Es bedeutet, daß sie es nur dürfen vor dem heiligen Gott, der unser Schöpfer und Vater ist. Von hier aus wird alles heilig. Auch Zeugung und Geburt. Darum ist die Ehe nur in Achtung und Liebe möglich und kann nur in der Furcht und Liebe Gottes recht geführt werden. Darum ist die Ehe ein Sakrament und nur als solches echte Ehe. Darum auch ist die Ehe etwas Ausschließliches. Die Einehe ist die Forderung des Einen Gottes. So sagt es Jesus im 19. Kapitel des Matthäus.
F. Woraus entsteht denn der Ehebruch?
A. Wie alle Sünde: aus der Entfernung von Gott. Die ursprüngliche Todesfrucht des Abfalles von Gott ist die Gier. Wer Gott hat, der hat Genüge. Sein Hunger und Durst nach dem ewigen Leben ist gestillt. Wer aber Gott nicht hat, begehrt die Welt. Er sucht nicht das Eine, sondern das Viele. Er bekommt nie genug. Er trachtet nach Glück, Ehre, Macht, Genuß. Er trachtet besonders nach Geld. Er trachtet vor allem auch nach dem Weibe. Er begehrt es mit den bloßen Sinnen, ohne die Voraussetzung von Achtung und Liebe. Das Weib wird aus Person zur Sache. So entsteht die Vielweiberei – sie entspricht den vielen Göttern der Heiden. Weiter auf dieser Linie geht es zur Hurerei. Götzendienst und Hurerei sind immer verbunden. Götzendienst ist Hurerei, weil Abfall von dem Einen Gott, und Hurerei ist Götzendienst, weil Dienst der Venus (in Israel der Astarte), während Ehe Dienst des Einen Gottes ist. Vom Einen Gott geht die Eine Ehe aus. Das Weib ist heilig, ist Person. Und so der Mann. Das Weib kann nur in der Einehe heilig sein, Person sein, und ebenso der Mann; jede Form der geschlechtlichen Vereinigung von Frau und Mann außer der Ehe ist Entheiligung von Frau und Mann. Die Ehe ist ein Sakrament und nur als Sakrament Ehe. Unzucht ist Ehebruch, vor der Ehe, in der Ehe (es gibt auch solche!), außer der Ehe und nach der Ehe.
F. Ist das Sakrament also im katholischen Sinn zu verstehen?
A. Es ist zu verstehen als die Heiligung der Schöpfung durch Gott und sein Reich.
F. Macht die Trauung die Ehe zum Sakrament?
A. Sie macht sie nicht zum Sakrament, aber sie bestätigt sie als Sakrament.
F. Gibt es dafür eine notwendige Form?
A. Die notwendige Form ist Gott und sein Reich; was an menschlicher Form dazukommt, muß von dort aus orientiert sein. Das alles wird sich nur erfüllen in dem Maße, als Gottes Reich kommt. Dieses ganze besonders tief verderbte und entartete Lebensgebiet kann überhaupt nur in dem Maße gesunden, als neue Kräfte des Reiches Gottes in dasselbe strömen.
F. Ist das nicht eine strenge Auffassung des Verhältnisses von Mann und Weib und von der Ehe?
A. Die Gerechtigkeit des Reiches Gottes muß über die bürgerliche Moral hinausgehen—ins Unendliche und Unbedingte. Sie darf nicht am Gesetz orientiert sein, sondern nur an Gott, dem Herrn und Vater. Aber selbstverständlich auch nicht an der Welt mit ihrer Sinnlichkeit und Leichtfertigkeit. Wer die Frau vor Gott dem Herrn als dessen Geschöpf und im Vater als Schwester empfindet, darf und kann nicht damit zufrieden sein, daß er nicht im groben Sinne mit ihr die Ehe bricht. Er darf ihrer auch nicht begehren, darf sie nicht dadurch zur Sache erniedrigen, darf sie auch nicht durch Gedanken entheiligen. Er hat sonst schon die Ehe mit ihr gebrochen. Weib und Mann müssen in der Ehe und außer der Ehe anders zu einander stehen.
F. Aber ist das nicht schwer? Wie kann man es halten?
A. Die Antwort ist im Grundsatz leicht. Es kann von dort aus gehalten werden, woher das Gebot kommt: von Gott, dem Herrn und Vater, aus. Wie die Gier aus dem Abfall von ihm stammt, so die Überwindung der Gier aus der Zukehr zu ihm, aus der Furcht – der echten! – vor ihm, aus der Liebe zu ihm, aus dem Gehorsam gegen ihn, aus dem Leben aus ihm. Der eine Gott wirft alle Götzen nieder, auch die, welchen die Unzucht dient. Er, der Allreiche, löscht die Gier aus, weil er den Hunger und Durst der Seele stillt. Er, der Heilige, macht Mann und Frau und Ehe heilig. Seine Furcht ist der rechte Zaun um sie herum. Die wahre Liebe, die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu ihm, vertreibt alle falsche Liebe. Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit zu dienen füllt die Seele aus und läßt keinen Raum für die Götzen und ihre Versuchung. Dem Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit fällt auch die rechte Reinheit zu. In diesem Lichte werden Mann und Frau das, was sie sein sollen. Nicht der Zaun des Gesetzes hält von der Verführung der Schlange ab, sondern Gott allein, der Herr und Vater. Christus allein vertreibt die Dämonen. Das Reich allein erlöst Mann und Frau und ihre Ehe.
F. Was bedeutet aber das Wort von dem Ausreißen des rechten Auges und dem Abhauen der rechten Hand? Es kann doch nicht wörtlich gemeint sein? So streng kann Jesus doch nicht sein?
A. Es ist viel strenger, als wenn es bloß wörtlich gemeint wäre! Die Wörtlichkeit wäre leichter zu erfüllen, hierin wie in allem. Was aber die Strenge betrifft, so ist sie die des Arztes, der tief schneidet, um zu heilen. Denn wenn das Begehren den Menschen beherrscht, so wird es zu seiner Hölle für Leib und Seele. Darum muß der Schnitt unerbittlich bis auf die tiefste Wurzel der Begierde gehen. Darum muß das Liebste geopfert werden, wenn es zur Versuchung wird, wenn es «Ärgernis» schafft. Das ist Operation zur Gesundung. Die Strenge Jesu ist Milde; sie rettet. Die Strenge des bloßen Gesetzes aber schafft bloß Not und Heuchelei und stärkt die Begierde. Nur Furcht und Liebe Gottes löschen sie aus, zerstören ihre Wurzel. Versuche es!
F. Sollen wir also die, welche in diesem Punkte fehlen, sehr streng verurteilen, ja
verdammen?
A. Man darf grundsätzliche Strenge gegen die Sünde nicht mit hartem Urteil über den Sünder verwechseln. Nur die aus dem Gesetz entstehende, stark mit Heuchelei behaftete Gesinnung ist verdammungssüchtig, die gegen sich selbst gerichtete, ehrliche Strenge aber ist Milde. Die Pharisäer verdammen die Ehebrecherin, der Heilige aber spricht zu ihnen: «Wer unter euch sich ohne Sünde weiß, der werfe den ersten Stein auf sie!» Und zum Weibe: «Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!» Vgl. Johannes 8, 1 ff. Auch ist es hochbedeutsam und vom durchschnittlichen Christentum sehr wenig verstanden, daß Jesus bei allem schweren Ernst seiner Beurteilung der geschlechtlichen Dinge doch Sünden der Sinne für weniger arg hält als Sünden des Geistes und die Dirnen dem Reiche Gottes näher sieht als die Pharisäer und Schriftgelehrten.
F. Aber kann durch die Strenge Jesu nicht ein Geist ängstlicher Unfreiheit in das Verhältnis von Mann und Frau kommen?
A. Im Gegenteil. Das Gesetz zwar macht unfrei. Es erzeugt das Begehren und führt zur Heuchelei. Von Gott aber kommt die Freiheit. Die Freiheit vertreibt auch das Begehren,
macht das Verhältnis von Mann und Frau rein und wahr. «Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.» 2. Kor. 3, 17. Auch zwischen Mann und Frau.
F. Die Einehe allein entspricht also dem Einen Gott und schließt alle zuchtlose Begierde aus. Aber schließt sie auch die Ehescheidung aus?
A. Grundsätzlich ja. Der rechten Ehe eignet Ewigkeit. Sie ist für immer geschlossen. Nur so ist sie Sakrament.
F. Also wäre auch die zweite Ehe ausgeschlossen?
A. Grundsätzlich ja. Die Ehe ist vor dem Einen Gott strenge Einehe.
F. Also hätte die katholische Kirche mit ihrem Verbot der Ehescheidung recht?
A. Sie hat auf ihre Weise recht.
F. Also gibt es auch eine andere Weise?
A. Es gibt auch eine protestantische Weise.
F. Worin besteht deren Recht?
A. Wie überall darin, daß sie zur katholischen Wahrheit das protestantische Vorzeichen der Freiheit der Söhne und Töchter Gottes setzt, oder anders gesagt, an die Stelle des bloßen Gesetzes die Erfüllung des Gesetzes.
F. Wie ist das gemeint?
A. Auch die Ehe ist in der gesetzlichen Form noch nicht – die Ehe! Die Ehe ist nicht etwas Fertiges. Gott, der Herr und Vater, ist auch der Lebendige; er führt seine Schöpfung weiter, er erlöst seine Schöpfung. Eine Ehe kann unter Umständen keine Ehe sein. Dann ist ihre Auflösung besser als ihre Beibehaltung. Jesus selbst läßt Ehebruch als Scheidungsgrund gelten. Die Herzenshärtigkeit der Menschen, sagt er, durchbricht das Gesetz Gottes. Vgl. Matthäus 19, 3-12. «Ehebruch» darf aber gerade nach dem Worte Jesu nicht in einem zu begrenzten Sinne verstanden und darum auch der Ehescheidung ein weiterer Raum zugestanden werden. Damit aber muß selbstverständlich eine neue Eheschließung erlaubt sein.
F. Wer hat denn recht, die katholische oder die protestantische Auffassung?
A. Beide. Und zwar bedeutet die katholische, auf ihre Weise, das Ideal. Es muß wieder stärker ins Licht gestellt werden. Die Einehe im strengsten, noch über die katholische Auffassung hinausgehenden Sinne muß neu betont werden, und sie als Sakrament. Aber die Erfüllung muß in der Freiheit geschehen, die von Gott kommt.
F. Wie ist diese Erfüllung möglich?
A. Sie ist möglich durch die Kräfte des Reiches. «Im Anfang war es nicht so» – sagt Jesus in der angeführten Stelle. Grundsätzlich gibt es nur die strenge Einehe. Durch die « Herzenshärtigkeit » der Menschen, die von Gott abgekommen, ist es anders geworden; die Erlösung führt, in Erhöhung, zum «Anfang» zurück. Weib und Mann sollen noch in erneuter Schöpfungsherrlichkeit Gottes Ehe verherrlichen.
F. Können sie das nur vereinigt?
A. Ja, nur vereinigt: daraufhin sind sie geschaffen.
F. Also nur in der Ehe?
A. Keineswegs! Durch Christus sind wir von der Gebundenheit der natürlichen Schöpfung erlöst. Weib und Mann können auch ohne die Ehe Gott verherrlichen und sollen es unter Umständen. Es muß nach dem Worte Jesu auch solche geben, «die um des Himmelreichs willen verschnitten sind», so wie er selbst um des Himmelreichs willen ehelos ist. Die Jungfräulichkeit bleibt ein hohes Ideal. Sie ist eine Korrektur der Meinung, als ob nur in der Ehe die Erfüllung von Mann und Frau zu finden sei.
F. Sollte also das Ideal erstrebt werden und die Ehelosigkeit höher sein als die Ehe?
A. Die Ehelosigkeit soll nicht erstrebt werden, aber sie soll angenommen werden als Berufung oder Schicksal. Sie kann von Gott aus eine besondere Höhe und Freudigkeit des Lebens bedeuten. Sie gewährt eine besondere Freiheit für den Dienst Gottes und seines Reiches. Sie bedeutet eine besondere Verherrlichung Gottes. Sie drückt durch ihr williges, ja freudiges Vorhandensein die Zugehörigkeit der Frau und des Mannes zu Gott allein und darum ihre höchste Freiheit aus. Sie hat darum etwas besonders Königliches.
F. Aber sollen sie nicht vereinigt Gott dienen und ihn verherrlichen?
A. Gewiß. Das bedeutet aber nicht: bloß in der Ehe. Das kann auch in der Freundschaft bestehen, wozu die Ehelosen besonders berufen sind. Aber es hat auch einen allgemeinen Sinn: als Frau und Mann sollen sie Gott verherrlichen. Das tun sie aber auch gerade dadurch, daß Frau und Mann, jeder auf seine Weise, es tun. Darum kann gerade die ehelose Frau das ganze Verhältnis von Mann und Frau erhöhen und heiligen. Und jeder Frau wie auch jedem Manne, auch den Verheirateten, soll ein solches Element der Jungfräulichkeit eignen. Dafür ist die Madonna das höchste Symbol. So leuchtet das von Jesus gezeigte und verlangte Verhältnis von Weib und Mann in die ganze Freiheit und Herrlichkeit des Reiches Gottes hinein.
F. Soll es nur in Ehe oder Ehelosigkeit zum Ausdruck kommen?
A. Selbstverständlich nicht; wie könnte es das, wenn es nicht im ganzen Leben zum Ausdruck käme? Höhe und Würde der Frau und des Mannes wie des Verhältnisses von Mann und Frau muß in allem Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft erglänzen und ein Hauptprinzip der Umgestaltung des Menschenwesens auf das Reich Gottes hin sein: als neue Gerechtigkeit, als Vorglanz des Reiches Gottes und Bewegung darauf hin.
F. Was ist vom Frauenrecht zu halten?
A. Das gleiche Recht der Frau gehört gerade in diesen Zusammenhang. Die Entwürdigung der Frau, deren furchtbarster Ausdruck die Prostitution ist, die aber in allem «Begehren» als Element vorhanden ist, hat zur Ursache, wie dann auch zur Folge, daß die Frau als minderen Rechtes erscheint, daß sie Sache ist statt Person.
F. Gilt, was damit von der Reinheit gesagt ist, nur für das Verhältnis von Mann und Frau?
A. Das ist nur ein Beispiel, wenn auch ein besonders zentrales. Es gilt von allem Leben. Reinheit ist überall da, wo Gott gilt, der Herr und Vater, und nicht die Götzen. Auch Demut, Selbstvergessenheit, Sachlichkeit, im Gegensatz zu Eitelkeit, Suchen seiner Selbst, Ehrgeiz, Eifersucht, Demagogie und Ähnlichem, kommen nie aus dem Gesetz, sei’s dem geistlichen, sei’s dem bürgerlichen – das ist immer nur ein Zaun -‚ sondern bloß von Gott, dem Herrn und Vater. Überall muß der unerbittliche Schnitt der ärztlichen Strenge auf die Wurzel gehen: die Gier nach dem falschen Unendlichen, das Begehren nach der Geltung, der Macht, dem Genuß, dem Gelde; überall muß die Gier nach der Welt gestillt werden durch Gottes Leben und Fülle; überall müssen die Götzen gestürzt werden durch den Einen Gott; überall muß ihre Verlockung gebrochen werden durch die Furcht und Liebe Gottes; überall muß das falsche Trachten verdrängt werden durch das eine Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit. So entsteht überall Reinheit. Die wichtigste, die fundamentale Form der Reinheit aber ist die Wahrheit.
Ist die Tür offen? Über die geistlich Armen von Christoph Friedrich Blumhardt
Der Heiland kennt solche Leute, die geistlich Armen, welche im Geiste sich unglücklich
fühlen, wenn Gott sich nicht bezeugt. Diese nennt er selig, weil diese ihn mit Freuden aufnehmen als den vom Himmel gekommenen und Gotteskräfte offenbarenden Heiland.
Solche Armut im Geiste, mit welcher sich der Glaube an den Heiland verbindet, rechtfertigt uns vor Gott… Die Selbstzufriedenheit und Ordentlichkeit im gewöhnlichen Leben rechtfertigt vor Gott nicht. Der Gerechte der Bibel ist der, der mit Gott leben will, der auch in der natürlichen Welt Gottesoffenbarungen sucht und die Hand des lebendigen Gottes haben will, wie Abraham, der immer wartete, ob und was Gott spreche.