Samuel Lutz
Ergib dich ihm ganz
Huldrych Zwinglis Gebet als Ausdruck seiner Frömmigkeit und Theologie
TVZ Zürich 1993
Johannes von Damaskus: Das Gebet ist (wie einer sagte) die Erhebung
und das Aufsteigen des Herzens zu Gott.
Die Kennzeichen rechten Betens
1. Der Glaube (Fides)
Also gibt es kein Gebet, wo man nicht zuerst dafür hält, dass Gott ist. Das Herz ruft den nicht an, an den es nicht glaubt. Folglich ist der Glaube das Fundament des wahren Gebets, und das Gebet seinerseits ist das Kennzeichen des Glaubens an Gott, ja bezeugt, dass der Glaube vorhanden ist. Allem voran ist erforderlicb, dass du fest daran glaubst, dass Gott dein Vater ist; … und dass du zu ihm so gewiss und vertrauensvoll läufst wie man zu einem lieben,
irdischen Vater läuft. Wo das geschieht, bedarf es hernach gar nicht mehr vieler Worte; denn er weiss zum voraus, was uns gebricht, ehe wir zu ihm eilen; und das höchste Gebet des Glaubens haben wir schon vollendet. Der Glaube also, der seitens des Menschen die Voraussetzung ist, dass er überhaupt betet und Beziehung sucht zu Gott, ist der Glaube an Gottes Beziehung zu ihm. Das ergibt als eigentliche Definitionen rechten Betens: Das Gebet ist dasjenige Gespräch, das du aus Glauben mit Gott führst als deinem Vater. Das Gebet ist gläubig, wenn das Herz durch den Glauben zu Gott sich erhebt und Gott um etwas bittet. Wahres Gebet beruht auf Glaubensglut. Beten ist inniges Anrufen aus dem Glauben. Das Gebet ist das ernsthafte Gespräch der gläubigen Brust mit Gott. Christus verstand unter Anbetung eine Richtung, der es um den Glauben selbst und um ein ehrfürchtig-frommes Verhalten geht gegenüber Gott. Es gilt deshalb auch stets beim Beten die Selbstprüfung, wieviel Glaube im Herzen sei und an Gottes Vermögen und Güte nicht zu zweifeln. Du sollst nicht daran zweifeln, dass Gott alles hat und dir dann auch geben will. Das Gebet ist der Beweis dieses Glaubens, nämlich dass du Gott als deinen Gott annimmst und erkennst, und dass du darauf vertraust, dass bei ihm dir alles möglich ist. Er gibt nur Gutes. Kurz: Ohne Glauben wird nichts
erreicht… Der Glaube wird allein von Gottes Geist geschenkt.
2. Das Vertrauen (Fiducia)
Das Anrufen kommt aus Vertrauen.
Anbeten heisst: das Herz Gott weihen, dem Herrn, der alles kann, und dem Vater, der alles will. Das ist Zwinglis Verständnis der devotio, die seitens des Menschen vorbehaltlos und ungeteilt geschehen soll, denn Gott will das Herz ganz und gar haben, die umgekehrt umsomehr dann aber auch gehen darf bis hin zur Anhänglichkeit, wenn von Gott angeklebten Herzen die Rede ist. Wie innig und vertrauensvoll, ganz ohne Furcht solch herzliches Gebet der Mensch verrichten darf, wie wohltuend es auf ihn selber wirkt und wie nötig er es auch hat, erläutert Zwingli am Beispiel und Vorbild Christi, der auf den Berg steigt um zu beten. Beten heisst mit Gott sprechen, und zwar gewissermassen <familiär> mit ihm <fabulieren> . Auch Christus suchte, wenn er nach langer beschwerlicher Beanspruchung und Anstrengung leiblich müde war, die Ruhe. Er unterbrach die Arbeit und wollte mit Gott reden und wieder Kraft schöpfen. So ist auch für uns das Gebet die wirksamste innere Erholung. Denn es gibt keinen grösseren Trost, kein angenehmeres Atem holen, keine willkommenere Beruhigung der gläubigen Seele, als das vertrauensvolle Gespräch mit Gott, und aus wahrem Glauben und Hoffen das Herz zu Gott hin tragen. Nicht die aufblickende Distanz kennzeichne das
Gebet, sondern eben die Vertrautheit.
3. Lob und Dank
Gottes Güte kann von uns gar nicht genug gepriesen werden; sie ist so gross, dass unser Lob stets kleiner ist. Gott sei Lob und Dank. In allen Dingen soll das Herz auf Gott schauen, alles von ihm erbitten, für alles danken und immer und überall zu ihm eilen. Halte dich an Gottes Wort, das Gott die Ehre gibt, ihm selber alles Wirken, allen Ruhm und alle Ehre zuschreibt. Ihm allein haben alle Frommen Ehre zu erweisen, während anderes anzubeten als Gott allein Abgötterei und Abgötterei die grösste Sünde ist. Wir werden noch mehrmals auf die Ausschließlichkeit der Anbetung Gottes zurückkommen. Hier genügt es, das SOLI DEO GLORIA als Kennzeichen rechten Betens und als Unterscheidungsmerkmal von falschem Beten zu haben.
4. Der Hilferuf
Man läuft gar schnell zu Gott in Trübsal.
Darum sollst du vor meinen Augen keine anderen Götter, das heisst: keine anderen Helfer,
Väter, Tröster, Beschützer, Schätze haben und niemand anderes, bei dem du Zuflucht suchst, denn: Ich, der höchste Herr, bin dein Gott, das heisst: dein einziger Trost und dein einziges Gut, zu dem allein du dich hinwenden sollst in allem, was dir ein Anliegen ist… Denn ich bin dein Vater, Haushalter, Fürsorger, Beschützer, Helfer, Tröster, alles zusammen.
5. Ergebenheit
Das ist der Geist des Gebets: fest an Gott hangen, sich ganz auf seinen Willen stützen … und: resignare, auf den eigenen Willen verzichtend. Wer glaubt …, schreit zu Gott um Hilfe; er ruft aber allein, dass alle Dinge geschehen mögen nicht nach seinem, sondern nach Gottes Willen, wie Christus… Dann beten wir (richtig), wenn wir Gott im Geiste anhangen, ihm wirklich anhangen. Das wird sich darin zeigen, dass wir, wenn uns irgend ein Leid befällt, zu Gott allein eilen und ihn bitten, es wegzunehmen, jedoch nicht anders als mit den Worten:
<Dein Wille geschehe>.
6. Im Namen Christi
Wir beten richtig, wenn wir den Vater durch Christus anrufen; denn so steht es in der Verheissung Joh 14, 13: Worum ihr den Vater in meinem Namen etwas erbitten werdet, werde ich es tun. Das Gleiche verheisst Joh 15, 7.
Durch Christus erkennen wir Gott als den Vater und können ihn als unseren Vater überhaupt erst anrufen. Alle Dinge will Gott uns in Christi Namen geben, betont Artikel 20, und Zwingli führt in der Auslegung dazu an: <Im Namen Christi> heisst soviel wie: um seinetwillen, in seiner Kraft, in seinem Wort. Es verdriesst ihn, dass wir nicht um alles, was wir nötig haben, zu ihm kommen und bitten. Darum spricht er: alles oder alle Dinge. Dank Christus darf das Gebet dann auch auf Erhörung zählen. Schau, damit wir sicher und und voll Vertrauen zu ihm kommen dürfen, macht er uns gewiss mit seinem Wort, nämlich: dass wir, wenn wir in seinem Namen begehren, sicherlich erhört werden… Allein durch Christus werden uns alle Dinge gegeben… Also folgt daraus, dass wir allein im Namen Christi bitten sollen. Item zu Joh 14, 13-14: In keines andern Namen sind wir zu bitten gelehrt. Er verheisst uns auch in keines andern Namen Erhörung. Wenn uns alles und jedes, worum wir im Namen Christi beten, vom Vater gegeben wird, warum sollen wir dann nicht in seinem Namen auch um die Vergebung der Sünden bitten? oder warum sollen wir sie auf einem andern Weg als durch Christus zu bekommen suchen? Am Gebet um die Sündenvergebung, will Zwingli sagen, erweist sich, ob jemand das solus Christus begriffen hat.
7. Vom Geist gelehrt und schriftgemäss
Die Liturgie muss systematisch-theologisch verantwortet werden können, und das kann sie nur, wenn sie biblisch begründet, also schriftgemäss ist. Wir wollen nur noch das singen, was aus der Heiligen Schrift stammt… Es mag zwar wenig ausmachen, mit welchen Worten einer Gott anredet, wenn er nur weiss, wie sehr es darauf ankommt, dass er Gottes Wort genau wiedergibt. Dieses ist sakrosankt; es darf und kann nicht uns unterworfen sein, – gemeint ist: wir haben uns unsererseits dem Gotteswort zu unterstellen und uns nach ihm zu richten, nicht umgekehrt. Denn schriftgemäss heisst wohl, nach dem Worte Gottes geformte Gebete, heisst vor allem aber, von Gottes Wort erwecktes Gebet im Herzen des gläubigen Menschen… Es bete jeder gemäss der Einhauchung des göttlichen Geistes, wie es ihm gefällt.
8. Die Andacht (Devotio)
Anbetung ist Andacht des Herzens.
Das Herz (cor, häufiger mens, gmuet) ist der ganze Mensch, den Gott allein kennt und der als Gemüt und Seele sich selber in der ihm verliehenen Ebenbildlichkeit mit Gott gar nicht erfassen noch erahnen kann. Herz meint die Mitte des Menschen und damit den Ort von Gottes Wort in uns, zu dem Gott allein Zugang hat und wo Gottes Geist in uns wirkt und am Werke ist. Ins Herz geschrieben ist Gottes Gesetz bereits dem Moses; nach diesem leitet er alles und führt er das Volk. Ziel der Verkündigung ist es, dass Gottes Wille in den Herzen der Menschen aufzuleuchten beginnt, denn das Herz ist Sitz und Organ des Glaubens, innerlich und von aussen deshalb nicht erkennbar, damit also auch der Ort, wo vorher der Sitz des Unglaubens, des Aberglaubens und der Abgötterei gewesen war. Gottes Ehre besteht darin, dass wir ihn im Herzen mit uns herumtragen, sein Lob im Herzen singen und ihn lieben, denn ihm soll unser Herz gehören. Das Herz ist der Ort der Busse und folglich nach erfolgter Busse auch der Gewissheit empfangener Vergebung wie der geistlichen Erfahrung überhaupt. Schliesslich entspringt auch dem Herzen, was wir tun. Alles in allem, könnte man zusammenfassend sagen, ist das Herz, was wir sind, und zwar ganz und gar, unsere innere Identität. Damit bekommt der kurze, knappe Grundsatz ein kaum abzuschätzendes Gewicht, wenn Zwingli erklärt: Beten tut das Herz. Er kennzeichnet damit das rechte Gebet als inneren Vorgang und als einen ganzheitlichen, wie wir heute sagen würden. Um beide Aspekte in einem zu betonen, die Ganzheit und die Innerlichkeit, braucht Zwingli den Ausdruck der Andacht des Herzens, mentis devotio.
Es ist für Zwinglis Gebetsverständnis nicht unwichtig, bei diesem Begriff der Andacht eine Weile zu verbleiben. Andacht meint vieles, nämlich:
1. Dass der ganze Mensch ungeteilt betet, und dass das Herz beim Beten ganz bei der Sache ist. Das Gebet weiht Gott das Herz, sich selber also mit allem, was wir Menschen sind, denken, empfinden, glauben und erfahren, Es kann deshalb das rechte Gebet nicht anders als aus ungeteiltem Herzen aufsteigen. Der Mensch betet, wenn sein Herz aus Glauben aufrichtig Hilfe sucht allein bei Gott selbst… Ganz will Gott das Herz haben, dass wir ihm innigst verbunden sind als wie mit ihm angeklebten Herzen. Andacht heisst denmach soviel wie mit <ungeteiltem Herzen> beten, oder wie man sagt: von ganzem Herzen.
2. Es ist nicht unwichtig zu merken, dass so verstanden der andächtige Mensch gerade nicht sich selber in seinen religiösen Möglichkeiten im Blick hat, sondern nur dann über längere Zeit andächtig zu beten vermag, wenn er auf Gott schaut und dabei sein eigenes Unvermögen erkennt und eingesteht. Nur in der Wahrheit des Geistes kann der Mensch lange andächtig sein, dann nämlich, wenn er die Ehre Gottes bedenkt und dessen Gnade dankt, die hilflose Bedürftigkeit an Leib und Seele recht ermisst, sich selber verwirft und sich täglich von neuem dazu aufrichtet, ein christlicbes Leben zu führen. Gerade in der Resignatio in bezug auf sich selber ist der betende Mensch erst bei der Sache.
3. Echte Andacht bedeutet, dass das Herz betet, nicht der Mund. Die Worte können, müssen aber nicht mitlaufen. Denn die Worte gehören zum Äusseren, das Gebet aber geschieht innerlich. Man lernt recht beten mit dem Herzen, nicht allein mit dem Mund; nur das ist das wahre Gebet. Zum Herrn sollen wir beten, nicht so sehr mit den Lippen, als vielmehr mit den Wünschen des Herzens. Moses und Hanna sind Beispiele, wie man beten kann, ohne dass Worte hörbar sind, und damit sind sie Vorbilder im Beten des Herzens. Denn das Gebet ist die Erhebung des Herzens, nicht Hauch oder Stimme, zu Gott. Darin unterscheidet sich das rechte Beten auch vom Plappern. Die einzigartigen Worte Christi lehren, was wahrlich gebetet sei, nichts anderes nämlich als mit dem Geist, das ist: mit dem Gemüt Gott anrufen, und zwar wahrhaftig, nicht mit erdichteten Worten oder mit äusserlichen Gebärden, bei denen man ständig wiederholt: O Herr, Herr! Überhaupt gilt: Die Andacht schreit nicht, und:
Die Worte sind ohne das Herz leer.
4. Das andächtige Gebet sucht die Stille, meidet allen äussern Schein, hat mit den anderen Leuten nichts zu tun, es sei denn in der Fürbitte. Beten wir recht, dann suchen wir nicht ein äusserliches in Erscheinung Treten oder Ansehen, sondern schauen auf Gott. Die Gefahr der Heuchelei nämlich, vor den Augen anderer im Tempel zu beten, um als besonders fromm zu erscheinen, lauert überall auf, deswegen auch die Anweisung Christi, zum Gebet sich in die Stille und ins Alleinsein zurückzuziehen, allgemein gültig ist. Gott hat dich geheissen in dein Kämmerchen zu gehen und da, an verborgenem Ort, mit deinem himmlischen Vater zu reden. Der werde dich sehr wohl sehen, hören und erhören. Wärst du andächtig, so wärest du allein… Andacht wird durch viel Worte in Anwesenheit vieler Leute verfälscht. Das Wort Christi: : <Gehe ins Kämmerchen> darf nicht in dem Sinn zitiert werden, als ob wir nur im Kämmerchen beten dürften. Denn Paulus will, dass die Männer an jedem Ort beten, vorausgesetzt, dass sie reine Hände zu Gott erheben.
5. Andacht heisst auch Konzentration, und diese ist immer nur solange vorhanden, als das Herz mit den Worten übereinstimmt. Die Anweisung Jesu an seine Jünger, beim Beten nicht viel Worte zu machen, gilt auch ganz besonders zur Förderung der Andacht, und Zwingli bemerkt dazu: Christus sagt das nicht, um vom Beten abzuhalten; vielmehr lehrt er das rechte Gebet, das nicht so sehr in vielen Worten besteht, sondern in der Glut des Glaubens …
Wenig Worte sind nötig zum Gebet, wohl aber grosse Andacht, tiefes Seufzen.
6. Gibt es äussere Hilfsmittel zur inneren Andacht? Nein, ist Zwinglis Antwort, im Gegenteil. Gottesdienst grundsätzlich geschieht innerlich, nicht äusserlich. Wir haben zu lernen, dass Gott nicht in äusseren Dingen verehrt wird, sondern allein durch die Reinheit des Herzens. Schroffer: Was schert mich der äussere Kult, wenn das Herz böse ist und übel gesinnt!
Von der inneren Andacht führen die äusseren Dinge nur ab, sie stören sie. Das gilt von den Heiligenbildern: so wenig sie das Herz gläubig zu machen vermögen, so wenig helfen sie zur Andacht. Die Götzen machen nicht Andacht. Das gilt für den Messegesang und kirchliche Gewänder. Weil weder Gesang noch Kleider zu nichts anderem <gut> sind als vom rechten, wahren Gebet, nämlich der Erhebung des Gemütes zu Gott, abzulenken, müssen sie abgetan und beiseitegelegt werden.
9. Beharrlichkeit (Perseverantia)
Erhebet eure Herzen zu Gott, ruft zu ihm um Mehrung des Glaubens, haltet an am Gebet … wenn ihr den Daemon spürt, die Versuchung des Glaubens!
Lasst uns beten zum Herren, dass er uns wiederum auf seinen Weg stellt, den Glauben uns mehrt, und unserer Schwachheit hilft! – denn wegen unseres Unglaubens oder der Schwachheit des Glaubens werden wir zurecht wie die Jünger getadelt, wenn wir nach so vielen Wundern, die wir gesehen und gehört und Gottes Kraft kennengelernt haben, um nichts besser sind. Immerfort muss gebetet werden, dass Gott das in uns angefangene Werk vollende und unseren Glauben mehre und stärke, weil wir nichts vermögen aus eigener Kraft.
<Mit unsrer Macht ist nichts getan>, sagte Martin Luther, und Zwingli stimmt zu: Niemand kann in den Anfechtungen bestehen, niemand kann siegen, wenn nicht der Herr seine helfende Hand ausstreckt. Auf die göttliche Hilfe kommt im Glaubenskampf alles an, weil der Glaube selbst nicht menschliche Leistung, sondern göttliche Gabe ist und nur von Gott selber stets wieder erneuert, gemehrt und gestärkt werden kann. Das Bleiben in Christus, seitens des Menschen die Vertiefung des Glaubens, kann deshalb gar nicht anders als zum Gebet, zum bittenden und demütigen Aufsuchen von Gottes Angesicht hinführen. Bleibet in mir Joh 15,4. Zum Verharren wird hier ermahnt. Es genügt nicht, durch den Glauben in Christus Fuss gefasst zu haben, wenn wir nicht in ihm bleiben. Es gilt deshalb wachsam zu sein, dass wir durch die Liebe in ihm bleiben und täglich tiefere Wurzeln schlagen, damit wir nicht rückfällig werden, nicht abfallen und verlorengehen. Wer also steht, sehe zu, dass er nicht falle, sagt Paulus. Immer wieder kann der Mensch zu Fall kommen, solange er lebt und vom schwachen Fleisch umgeben ist. In Gottesfurcht soll man sich deshalb vor Gottes Angesicht begeben, in grosser Erniedrigung und Bescheidung der Seele. Dabei besteht die Versuchung und die Anfechtung nicht zuletzt gerade darin, auf eigene Kraft bauen und vertrauen zu wollen. Das Gebet in der Versuchung gehört deshalb sehr wesentlich zum Kampf gegen diese Versuchung. Man sieht es bei den Aposteln, selbst bei Christus, wie schwach das Fleisch ist. Wir müssen uns ganz Gott überlassen, ohne den wir nichts tun können, und ihn heiss darum bitten, dass er uns ermutigt, stärkt und uns Kraft gibt. Ohne Unterlass müssen wir ihn bitten, dass er uns nicht in Versuchung führt, dass er uns mit ausgestreckter Hand leitet, auf dass wir ja nicht fallen. Wir werden solange aufs höchste versucht, und solange fallen wir auch, als wir unseren Kräften etwas zuschreiben oder solange wir auf uns selbst vertrauen. Solange nämlich berauben wir in Selbstanmassung Christus die ihm zukommende Ehre. Nun hat allerdings die Versuchung und damit auch der Kampf des Christenmenschen einen tiefen Sinn. Zwingli erkennt ihn in der Erprobung des Glaubens. Wenn Gott uns versucht, erzieht er uns unter dem Kreuz… Das Menschenleben ist nichts als Plage, Kampf und Krieg, fährt dann aber sogleich fort: Dadurch übt, erprobt und härtet uns Gott. Es ist nötig, ohne Unterlass zu beten und nicht nachzulassen, auch wenn wir nicht sogleich erhalten, worum wir bitten.
10. Die Lebensführung (Innocentiae studium)
Mache uns würdig, dein Lob mit Herz, Werk und Mund zu singen.
Dass Herz und Mund beim rechten Beten übereinstimmen, ansonsten die Andacht fehlt,
ist Zwinglis ausgesprochenes Anliegen. Weniger und seltener, wohl weil es selbstverständlich ist, tönt er an, dass auch Herz und Werk in Einklang stehen müssen, Gebet und Lebensführung. Im Abschnitt, wo von Wort und Herz die Rede ist, führt der Gedankengang fast unmerklich, aber typisch für Zwingli, vom Thema der Andacht hinüber zur Ethik. Die Worte sind ohne das Herz leer. Gelingt es dir, lange mit Herz und Mund zu beten, so danke Gott dafür. Denn es ist die Ausnahme, dass man längere Zeit mit Worten Andacht hält. In der Wahrheit des Geistes aber kann der Mensch lange andächtig sein, nämlich so, dass er Gottes Ehre bedenkt, seiner Gnade dankt, die Prästen des Leibes und der Seele recht ermisst, sich selber verwirft, sich der Barmherzigkeit Gottes anheimstellt – bis hierher ist uns das Zitat bereits bekannt; nun aber geht der Satz noch weiter – und täglich von neuem sich aufrichtet, christlich zu leben. Gerne wählt Zwingli zur Bezeichnung der christlichen Lebensführung das Begriffspaar: innocentiae studium, das Trachten nach Unschuld. Exegetisch ergibt sich ihm die Verbindung zum Gebet aus 1. Timetheus 2, 8. Paulus will, dass die Männer an jedem Ort beten, vorausgesetzt, dass sie reine Hände zu Gott aufheben … Wir sehen hier, dass es keine unwesentliche Seite am Beten ist, reine Hände zu Gott aufzuheben, und das bedeutet nichts anderes als der Unschuld sich zu befleissigen. Glaube, Leben und Gebet, sie gehören alle drei zusammen. Wir müssen mit wahrem Glauben und unaufhörlichem Bemühen um ein untadeliges Leben niemals von Gott uns abkehren, sondern vor ihm beharrlich schreien und bitten. Darin besteht auch, im Unterschied zum leeren Zeremonienwesen, der wahre Gottesdienst, wie Gott seine Anbeter haben will. Nicht von ungefähr notiert der Johanneskommentar zum wahren Gebet, wenn auch nur als Hinweis, Jesaja 1 und Jeremia 6. Beide Propheten unterscheiden dort wahren und falschen Gottesdienst am Kriterium von Recht und Gerechtigkeit. <Reiniget euch! Tut hinweg eure bösen Taten, mir aus den Augen! Höret auf, Böses zu tun, lernet Gutes tun! Trachtet nach Recht, weiset in Schranken den Gewalttätigen! Helfet der Waise zum Rechte, führet die Sache der Witwe!> Wo Unrecht getan wird, kann nicht recht gebetet werden, denn mit Glauben und Unschuld, nichts anderem, will Gott verehrt werden, aus reinem Herzen allein und durch rechtschaffenes Leben. Deshalb muss auch Gehorsam sein im Herzen des Betenden, kurz: Es genügt nicht zu sagen: Herr!, sondern nach des Vaters Willen haben wir zu leben. Dabei bleibt, wie bei Zwingli zu erwarten ist, auch die hier genannte ethische Kennzeichnung des rechten Betens als Wille zu einer unschuldigen Lebensführung nie im bloss individuell-persönlichen Bereich und Interesse eines jeden Einzelnen stecken, sondern findet ihre sozialethische Weite, indem die Mitmenschen mit einbezogen sind. Gott wird dadurch verherrlicht, dass wir uns der Wahrheit und der Unschuld befleissigen, und dass wir bereit sind, die Brüder nicht auszubeuten, sondern uns für sie hingeben. Das bedeutet, den Vater in Geist und Wahrheit anzubeten.
11. Freies Gebet
Wenn der Heilige Geist den menschlichen Geist beten lehrt, bedarf es keiner zusätzlichen Vorschriften, und wer an die Schrift sich hält, findet in ihr Christus als Vorbild, wie man beten soll und darf. Frei ist die Anbetung, des Herzens Andacht, und zwar frei von örtlicher oder zeitlicher Gebundenheit, frei im Inhalt und frei in der Form. Das Gebet kann nicht an bestimmte Orte gebunden werden, wo Gott doch überall ist. Vielmehr soll man wissen, dass Gott da ist, wo er angerufen wird, und erhört. Er ist nicht an einem Ort gnädiger als an einem andern. Wallfahrten sind demnach gar nicht nötig, weder nach Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela noch irgendwohin. Schickt Christus uns ins Kämmerchen, so will das nicht verstanden sein, als ob man nur im Kämmerchen beten dürfe. Die Klage der Samariterin über die unrechtmässige Bindung des Gebetes an den jerusalemischen Tempel war berechtigt. An allen Orten, verlangt der Apostel, sollen die Männer beten, und Zwingli ergänzt: desgleichen auch die Frauen. Auch spezielle Gebetszeiten gibt es nicht. Der Gläubige betet immer. Gebet ohne Unterlass wird zur Gebetshaltung. So kann der Bauer am Pflug beten, wenn er seine Arbeitslast im Namen Gottes geduldig trägt, Gott vertrauensvoll um Mehrung des Saatgutes anruft und dabei oft bedenkt, wie unser hiesiges Leben oft nur Jammer und Elend ist, dort aber werde uns der gnädige Gott Ruhe, Frieden und Freude geben. So betet er, auch wenn er den Mund dabei nicht bewegt. Desgleicben der Schmied am Amboss. Sieht er in allem seinem Tun und Lassen auf Gott, dann betet er ohne Unterlass. Was die Gemeinden betrifft, so besteht ihre Freiheit gerade darin, die ihnen als richtig erscheinende liturgische Ordnung frei zu wählen, womit Zwingli Gebet und Gottesdienst von der episkopalen Bevormundung befreit… Auch wofür, was und worum gebetet wird, ist frei, wenn nämlich Gott um alles angerufen werden darf und in jedem Fall. Wichtig ist nur, dass die Dankbarkeit beim Beten nicht fehlt, denn wahre Gläubige sind dankbar. Wo immer Brüder in Christus füreinander beten, ist es empfehlenswert, wenn sie dies im freien Gebet tun.
12. Die betende Kirche
Der Fürbitte kommt keine Sonderstellung zu, die sie von anderen Gebeten unterscheidet, wohl aber schliesst alles rechte Beten die Mitmenschen mit ein. Christus lehrt in der Mehrzahl beten: Unser Brot gib, vergib uns unsere Schulden etc., nicht mein oder meine, eine Feststellung, die zwar jeder aufmerksame Beter und Ausleger des Herrengebets macht, deren Konsequenz für Zwingli indessen dann über das Unser Vater Gebet hinaus grundsätzlich wird für alles Beten, wenn er sagt: Keiner bete für sich allein, sondern auch für alle andern, und seine Aufforderung zur Fürbitte damit begründet, dass Gotteserkenntnis, die aus Glauben kommt, begreift, dass Gott nicht dem Einzelnen, sondern allen gehört. Somit betet der Einzelne als Glied der christlichen Kirche, und die Kirche betet in ihren Gliedern, privat oder öffentlich, miteinander und füreinander. Das ist das Gebet, dem Gott geben will, was er verheissen hat. Wichtig ist hierbei zu bemerken, dass Zwingli zwischen dem persönlichen und dem gemeinsamen Beten, zwischen dem Gebet des Einzelnen und demjenigen der Kirche zwar unterscheidet (denn Einzelpersonen wie Priester, Mönche und Nonnen sind nicht die Kirche), aber keines vom andern getrennt wissen will (denn die Mitglieder der Kirche sind die Kirche). Es gibt für ihn also kein Gebet der Kirche anders als in ihren konkreten, lebendigen Gliedern, wie es ebensowenig ein rechtes Beten einzelner Individuen losgelöst von der Gemeinde gibt. Ersteres schliesst die Fürbitte der verstorbenen Seligen aus, das zweite lehnt das abgesonderte Gebet der sogenannten Bruderschaften ab. Unter der betenden Kirche darf nach Zwingli nicht die universale, sondern kann nur die sichtbare verstanden werden. In ihr und durch sie geschieht Fürbitte, und zwar hier und jetzt in dieser Zeit. Das Fürbitten ziemt uns, die noch auf Erden sind; wo in der Schrift steht, wie man füreinander bitten soll, wird das nur denen gesagt, die noch in dieser Zeit leben.
Die schon selig Gewordenen beten nicht mehr, denn ihr Zustand ist ewige Wonne und Freude, ohne alles Leid und Bekümmernis… Dass das Gebet, von Christus gelehrt und geheissen, nur die noch Lebenden betrifft, zeigt das Unser Vater an … Dessen Worte können den Seligen nicht ziemen. Wo füreinander gebetet wird, da lebt die Kirche als sichtbare Gemeinde in
ihrer irdischen Gestalt.