Weltreich, Religion und Gottesherrschaft

Leonhard Ragaz
Weltreich, Religion und Gottesherrschaft
Zweiter Band
Rotapfel-Verlag 1922

Wir wollen am allerwenigsten einen sozialistischen Militarismus, eine sozialistische Gewalt, eine sozialistische Diktatur, eine sozialistische Klassenherrschaft, eine sozialistische alte
Erde
– alles Widerspruch in sich selbst, Schändung des Ideals. Wir wollen vorwärts zu
einer wirklich n e u e n Erde, worinnen G e r e c h t i g k e i t wohnt. Darauf harren wir.
Eine n e u e Gerechtigkeit, nicht das, wovon wir schon bisher genug und übergenug gehabt haben. Nicht wieder Gewalt, sondern Gerechtigkeit und Liebe; nicht wieder Krieg – an
Stelle des Weltkrieges der noch schlimmere Bürgerkrieg -, sondern eine von Blut und Mord gereinigte Erde; nicht wieder Klassenkampf, sondern seine endliche Ueberwindung; nicht wieder die Erniedrigung des Menschen durch Sinnlichkeit, Laster und dämonische
Selbstsucht, sondern seine endliche Erlösung zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes;
nicht wieder Religionswahn aller Art, sondern der klare Sonnenschein des Reiches Gottes. Wir wollen wirklich vorwärts, nicht unter dem Schein des Vorwärtsschreitens in Wirklichkeit rückwärts. W i r  w o l l e n  n i c h t  R e a k t i o n,  s o n d e r n  R e v o l u t i o n – aber
eine Revolution in einem andern Stil als die, die bloß zur alten Erde zurückführt und
diese durch das Neue nur verderbt; nicht eine weniger radikale, sondern viel radikalere,
eine Weltrevolution im größten Stil.
Wir bedürfen eines neuen Himmels. Denn zu einer neuen Erde gehört notwendig als
Vorbedingung ein neuer Himmel. Die Erde ist so, wie der Himmel über ihr ist. Es wachsen auf ihr die Pflanzen, die dem Himmel entsprechen. Sie trägt die Farbe des Himmels. Sie ist hell oder dunkel, je nachdem der Himmel Licht spendet oder nicht. Ohne Bild gesprochen: Die menschlichen Geschicke hängen davon ab, was für einen Glauben die Menschen
haben.
Das ist’s, worauf alles ankommt. Die große Menschenfrage ist, einmal, ob sie einen Himmel über sich haben oder nicht und sodann, was für einen; wieder ohne Bild gesprochen, ob sie einem Gott dienen und was für einem. Je nachdem gestaltet sich dann die
Erde, die politischen, sozialen und alle anderen Verhältnisse. Von hier beziehen die
Menschen Leben oder Tod, Seligkeit oder Unseligkeit.

Der Pharisäismus der bürgerlichen Welt erzeugt den Bolschewismus der proletarischen.
So wirken diese scheinbar entgegengesetzten Mächte, Gewalt und Recht, doch im Grunde zu dem gleichen Ergebnis zusammen: dem Hängenbleiben an der alten Erde… Darum, wenn eine neue Erde kommen soll, dann ist ein neuer Himmel nötig… Unter diesem
Himmel grünt dann die neue Erde auf. Es wird der Völkerbund und Völkerfrieden möglich… Nun verliert der Imperialismus seine Macht, weil das Reich Gottes allen Völkern die ganze Erde und dazu die Unendlichkeit öffnet. Nun wächst eine Gesinnung heran, die auf die Menschlichkeit blickt als auf eine große Familie und die jedes Volkes Los auf dem Herzen trägt, wie das des eigenen. Auch die soziale Frage wird nun erst lösbar und ein echter Sozialismus möglich. Denn nun haben die Menschen ihr Leben nicht mehr im Geld, in den vorhandenen Zuständen, sondern in Gott… Ein Drang nach neuer Gerechtigkeit treibt sie über die fluchbeladenen alten Zustände hinaus. Ihre Freude wird wieder eine Arbeit, die nicht Mammondienst, sondern Gottesdienst ist. Sie werden in Gott frei für eine neue Ordnung. Sie bringen freudig große Opfer an Besitz, Behagen und Vorteilen. Sie haben Himmel und darum können sie der Erde geben, sie sind reich in Gott und können so andere reich machen… Denn nun haben wir nicht bloß Religion, sondern Reich Gottes.

Darauf warten wir: auf den Tag unseres Gottes, nicht auf menschliche Künstlichkeiten
und Gewalttätigkeiten. Nicht Wilson, aber auch nicht Lenin, nicht Paris, aber auch nicht Moskau, sondern Christus wird es tun.
Wir sehen, daß eine neue Welt werden will, die aber von den Gewalten der alten immer wieder verderbt, ja verschlungen wird… Mir scheint der Sinn dieser gewaltigen Bewegung zu sein, daß die Welt stürmisch dem Gottesreich entgegendrängt. Die Bewegung in der
Politik, im sozialen Leben und allüberall, sie hat, oft ohne es zu wissen, Gottesreichsziele im Auge. Auch der Bolschewismus bezieht aus dieser Sehnsucht seine Kraft.
Lenin und Wilson, Paris und Moskau können sich dieser Bewegung nicht entziehen.
Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus – das sind im Grunde alles Dinge, die mit dem
Reiche Gottes einen sehr engen Zusammenhang haben, die gereinigt, in ihrem wahren Sinn verstanden, zu ihm gehören. Nun können aber diese Bewegungen sich verirren. Sie fallen von sich selbst ab, geraten in das Gegenteil ihres eigentlichen Wollens. Der Antichrist bemächtigt sich ihrer.
Was hat dies zu bedeuten? Es hat, wie ich meine, zu bedeuten, daß diese Wahrheiten des Gottesreiches auf falsche Weise vertreten werden, weil sie nicht auf die wahre vertreten sind. Sie treten im Gefolge des Antichrist auf, weil sie nicht durch die Jünger Christi verwirklicht werden. Darum ist dies unsere klare Aufgabe: daß von uns jene
Revolution ausgehe, die alle andern auflöst, weil sie sie erfüllt, die Revolution, die auf eine wirklich neue Welt geht. Wir müssen den Sozialismus Christi verwirklichen, dann hört der des Antichrist auf. Wir müssen den Kommunismus des Evangeliums leben, dann gibt es keinen Klassenkampf mehr. Wir müssen die Wirklichkeit des Glaubens und der Liebe beweisen, dann erlischt das Feuer des Bolschewismus. Wir müssen alles erfüllen, was die stürmische Sehnsucht der heutigen Welt will, aber nicht auf ihre Weise, sondern auf die Weise der höheren Welt. Nur die Wunder des Christ können die des Antichrist
besiegen .. Das ist die große Aufgabe. Das die Rettung, das allein. Dahin drängt alle Not
und alle Hoffnung. Es soll in furchtbaren Geburtsschmerzen die neue Welt Gottes und
des Menschen geboren werden. Unsere Aufgabe ist uns wohl klar geworden.
Wir müssen all unsere Kraft dafür einsetzen, daß wir den neuen Himmel erfassen,
von dem aus die neue Erde werden kann. Das ist nun das eine, was not ist.

Die Gründung der Schweiz fällt genau in die Zeit der Templerverfolgung in Frankreich