Sechstes Gebot: Halte heilig das Leben!
«Du sollst nicht töten.»
Frage: Was bedeutet das?
Antwort: Es bedeutet, daß das Leben heilig ist. Es gehört Gott. Es darf nicht angetastet werden. Es fordert heilige Scheu. Es ist Gottes Schöpfung.
Frage: Alles Leben, auch das von Tier und Pflanze? Auch das der Giftschlange?
Antwort: Alles ohne Ausnahme. Alles Leben fordert heilige Scheu.
Frage: Darf man also die Giftschlange nicht töten?
Antwort: Doch, man darf sie töten, aber nur wo es nötig ist, und man darf sie nicht ohne Not quälen. Man darf, wie gesagt, Blumen nicht abreißen und wegwerfen oder in Masse an sich raffen, bloß um des Raffens willen. Das ist gegen Gott. Man darf aber auch nicht Kristalle zerschlagen. Denn es ist auch in ihnen etwas Lebendiges.
Frage: Aber benutzen?
Antwort: Ja, benutzen, soweit es Sinn hat, aber mit Ehrfurcht.
Frage: Aber das Leben der unschädlichen Tiere? Darf man sie nicht töten? Darf man kein Fleisch essen? Haben die Vegetarier recht? Oder die Gegner der Vivisektion?
Antwort: Eins ist sicher: Man darf die Tiere nicht quälen ohne Not. Auch sie gehören Gott. «Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, das Herz des Gottlosen aber ist grausam.» Sprüche 12,10. Man darf sie vielleicht töten und essen, aber mit Ehrfurcht. Der Ausdruck dafür ist das Opfer.
Frage: Was bedeutet das?
Antwort: Es bedeutet heilige Scheu. Es bedeutet Dank. Es bedeutet Überwindung der Gier. Es bedeutet Sakrament im weiteren Sinne.
Frage: Wo ist die Grenze?
Antwort: Wo jeder sie sieht.
Frage: Aber für alle?
Antwort: Beim Menschen.
Frage: Warum gerade beim Menschen?
Antwort: Weil der Mensch das Ebenbild Gottes ist. Weil er in Christus Bruder ist. Weil er Persönlichkeit ist.
Frage: Also keine Todesstrafe?
Antwort: Keine. Wir haben keine Macht über Leben und Tod; die hat Gott allein.
Frage: Also auch keine Verhinderung des Lebens und keine Vernichtung des keimenden?
Antwort: Keine. Das ist Greuel vor Gott.
Frage: Aber die Folgen? Die sozialen Verhältnisse?
Antwort: Schafft Verhältnisse, die vor Gott und aus Gott recht sind und alles Leben hat Raum.
Frage: Gibt es keine Ausnahmen?
Antwort: Es gibt Ausnahmen, aber nur für äußerste Not und in heiliger Scheu. Und unter der Zucht des Gesetzes.
Frage: Darf man sich selbst das Leben nehmen? Gibt es keinen Freitod?
Antwort: Selbstmord ist Mord und Greuel vor Gott. Das Leben gehört Gott.
Frage: Gibt es nicht Entschuldigung dafür?
Antwort: Selbstverständlich ist oft Selbstmord durch andere verschuldet. Dann fällt die Schuld auch auf sie. Selbstmord ist oft Folge von Krankheit oder furchtbarer Not; dann fällt die Schuld auch auf diese. Nicht Verdammung, sondern heilige Scheu! Auch vor Not und Tod, Sünde und Schuld heilige Scheu! Gott ist Richter.
Frage: Und die sogenannten Lebensunfähigen, die Alten und Gebrechlichen, die Schwachsinnigen, die unheilbar Geisteskranken, die unheilbar Kranken überhaupt? Darf man sie nicht töten?
Antwort: Nein, unbedingt nein. Das Leben gehört Gott. Hier ist eine Grenze, die der Mensch nicht überschreiten darf. Er zerstört sonst einen Damm und öffnet der Überschwemmung durch alle Unmenschlichkeit den Weg. Alte, Schwache, Kranke sind da, daß wir sie ehren und pflegen. Sie sind Gott besonders heilig. Sie sind besonders seine Stellvertreter. Sie sind die Brüder und Schwestern Christi. An ihnen sollen die Werke Gottes offenbar werden. Vgl. Johannes 9, 1ff. Gerade in ihnen ist der Mensch zu ehren. Eine Welt von lauter Gesunden und Starken würde rasch entarten. Wo man die Alten als Stoff behandelt, da behandelt man auch die Jungen als solchen. Wo man Unheilbare tötet, da erlahmt auch das Ringen um das Leben der Heilbaren. Die Ehrfurcht vor dem Leben hört auf. Die Massentötung von Alten, Kranken, Schwachen wird zum Gipfel der Gottlosigkeit. Aber auch die Züchtung menschlichen Lebens nach Art der Tiere ist dasselbe. Es fehlt beide Male die heilige Scheu; es fehlt die Furcht Gottes.
Frage: Aber der Krieg? Darf man da nicht töten?
Antwort: Auch der Krieg ist gegen Gott. Er ist Massenmord und Greuel vor Gott. Man darf keinen Menschen töten. Denn er ist Ebenbild Gottes und in Christus Bruder.
Frage: Aber wenn der Mensch eine Bestie ist, oder ein Teufel?
Antwort: Dann sollen wir selbst keine Bestie und kein Teufel sein. Und der Andere bleibt in der Entartung doch Mensch.
Frage: Aber im Alten Testament werden doch Kriege geführt und wird Todesstrafe geübt, beides ohne Tadel?
Antwort: Im Neuen Testament aber gilt schon das Hassen als Mord. Und im Alten Testament ist der Krieg es zuletzt auch. Es wird seine Überwindung gefordert und geweissagt. Das Gleiche gilt von der Todesstrafe. Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern, daß er sich bekehre von seinem Wandel und lebe. Ezechiel 28, 23. Das Gesetz Gottes geht eben über die Wirklichkeit weit hinaus – es ist nicht nur Forderung, sondern auch Weissagung. Das Ziel ist die Rettung und Erlösung alles Lebens und der Sieg über den Tod. Dafür sollen wir arbeiten und kämpfen. Wir sollen nicht nur nicht selber töten, sondern auch gegen alles kämpfen, was tötet: gegen Verhältnisse, die töten, gegen Wohnungen, die töten, gegen Arbeit, die tötet, gegen Laster, die töten, auch gegen das, was die Seele tötet: gegen den Mammon, die Prostitution, die Genußsucht, gegen die Verleumdung, die Lieblosigkeit, den Haß, gegen die Mechanisierung des Lebens und gegen allen Geist, der die Seele vernichtet. Und selbstverständlich gegen Krieg, Krankheit und Tod. Für Gott und sein Reich. Gott ist das Leben. Das ewige Leben.
Kein Tod auf Rezept – Interview mit Prof. Axel W. Bauer
Siebentes Gebot: Mann und Weib, haltet einander heilig!
«Du sollst nicht ehebrechen.»
Frage: Was bedeutet das?
Antwort: Es heißt eigentlich: «Du sollst nicht huren! » Und das bedeutet: Auch der Leib ist heilig. Auch er gehört Gott und soll nach dem Worte des Apostels ein Tempel des heiligen Geistes sein. Leib und Seele sind verbunden heilig.
Heilig ist die Frau, heilig der Mann. Heilig soll das Weib dem Mann sein und heilig der Mann dem Weibe. Heilig ist auch ihre sinnliche Verbindung in der Ehe. Sie gehört zur Schöpfungsordnung des heiligen Gottes. Sie ist ein Lebenszentrum und eine Lebensquelle, in gewissem Sinne sogar das Lebenszentrum, die Lebensquelle. Ihre Reinheit und Heiligkeit auf der einen, wie ihre Verunreinigung und Entheiligung auf der andern Seite haben darum auch für das seelische nicht minder als für das leibliche Leben sowohl der Völker wie der Einzelnen eine fundamentale Bedeutung, die nicht bloß mit dem nüchternen Verstand zu messen ist, sondern sich nur der unmittelbaren Erkenntnis der Ehrfurcht erschließt. Die Frucht der Reinheit dieser Quelle ist Leben, die Frucht der Unreinheit Tod – für die Völker wie für die Einzelnen – und zwar im Seelischen wie im Leiblichen. Jede Unzucht ist Greuel vor Gott.
Frage: Was ist Unzucht?
Antwort: Jede Betätigung der geschlechtlichen Sinnlichkeit außerhalb der Ehe, aber auch die der bloßen Sinnlichkeit in der Ehe.
Frage: Ist das nicht zu hart geurteilt?
Antwort: Nein, es ist milde geurteilt: denn die Unzucht schändet den Menschen; sie erniedrigt ihn unter das Tier.
Frage: Sollen denn alle, die hierin fehlen, verdammt werden?
Antwort: Die Strenge des Gesetzes bedeutet wohl Gericht, aber nie Verdammung. Sie bedeutet Rettung und Heil. Sie ist nicht Pharisäismus. Nur das Nichternstnehmen hinter der Maske des Ernstes des Gesetzes führt zum Pharisäismus, weil zur Heuchelei. Auch in diesem Punkte bedeutet das Gesetz nicht einfach Wirklichkeit, sondern Ziel und Verheißung.
Frage: Was macht aber das Wesen der Ehe aus?
Antwort: Daß Mann und Weib in Gott zusammenkommen und ein Mensch werden nach Leib und Seele, zur Fortführung der Schöpfung, zur Offenbarung Gottes und zum Dienste an seinem Reiche.
Frage: Ist die Einehe die rechte Form der Ehe?
Antwort: Ja. Denn nur sie entspricht der Würde von Mann und Frau. Nur sie dem Sinn der Ehe. Diese muß einzig und einzigartig sein. Sie muß für die Ewigkeit bestimmt sein oder sie ist nicht Ehe. So allein ist sie in Gott, dem Einen, Heiligen gegründet und damit heilig.
Frage: So wäre denn die Ehe ein Sakrament, wie die katholische Kirche lehrt.
Antwort: Sie ist es in einem weiteren Sinne: eine Verbindung von Körper und Geist in Gott, über der Gottes besonderer Segen waltet. Ein Geheimnis, eine Gnade.
Frage: Ist denn Ehescheidung oder Wiederverheiratung Ehebruch?
Antwort: Die katholische Kirche lehrt es, wenn auch nicht in dieser Schärfe.
Aber es kann auch Erhaltung und Betonung der Heiligkeit der Ehe sein.
Frage: Ist die Ehe Pflicht? Hat das ehelose Leben kein Recht?
Antwort: Die Ehe ist Pflicht, wo Gott sie durch echte Begegnung von Mann und Frau fordert, wo kein klares körperliches oder seelisches Hindernis im Wege ist und keine besondere Berufung zur Ehelosigkeit vorliegt. Das Evangelium öffnet aber einen edlen Weg für ein Leben außer der Ehe im Dienste Gottes. Jesus und Paulus sind ihn gegangen. Die Ehe an sich ist nicht Gesetz; nur die rechte Ehe ist Gesetz.
Frage: Wie kann die rechte Ehe werden?
Antwort: Wir wollen die Frage erweitern: Wie kann das Verhältnis von Mann und Weib recht werden? Die Antwort ist: Es muß Gott zu Ehren kommen gegenüber allen Götzen der Natur und des Geistes. Es müssen alle Verhältnisse so gestaltet werden, daß darin die Würde des Menschen, der Frau wie des Mannes, zum Ausdruck kommt Es muß besonders die Freiheit und Würde der Frau ganz anders als heute zur Geltung kommen. Es muß in alles Leben mit neuer Freiheit neue Zucht hinein. Es muß darin mit neuer Strenge das Gesetz Gottes walten und in neuer Kraft das Evangelium. Es müssen aus Gott und den aus ihm erneuten Ordnungen neue Gesundheit und Freude quellen. Es müssen die Kräfte des Reiches Gottes strömen. So wird das Verhältnis von Mann und Frau erlöst werden zu Gesundheit und Heiligkeit und selbst neu ein Gefäß und Werkzeug des Reiches Gottes werden.
Achtes Gebot: Gib Jedem das Seine!
«Du sollst nicht stehlen!»
Frage: Wie ist das zu verstehen?
Antwort: Es wird, wie alle andern Gebote, meistens zu eng verstanden, etwa bloß so:
«Hüte dich vor einem Verstoß gegen die vorhandene Eigentumsordnung. Werde kein Dieb, der ins Gefängnis kommt.» Dazu gehört, daß man unter Heiligkeit des Eigentums meistens bloß an das eigene denkt und nicht an das des Andern; daß es einem gleichgültig ist, ob der Andere Eigentum habe oder nicht. Das bedeutet auch, daß man das Gebot viel zu negativ faßt: daß man etwas nicht tue, statt, daß man etwas tue. Es bedeutet aber vielmehr: Heilig sind die Güter der Erde. Denn sie gehören Gott. Sie dürfen nicht absolutes Eigentum einzelner Menschen oder Menschenschichten werden. Sie gehören Allen. Besonders haben auch die Armen und Verkürzten ein heiliges Recht darauf. So legt das ganze Gesetz Mosis das Gebot aus und so das Neue Testament, das dann freilich noch weiter geht – über allen Besitz hinaus in die Armut des Evangeliums hinein – aber das Gebot nicht aufhebt.
Ganz besonders betont das Gesetz Mosis, daß das Land (Grund und Boden) Gott gehört («Das Land gehört dem Herrn») Vgl. 3.Mosis 25, 23. und nur nach seinen Ordnungen von den Menschen zu Lehen gehabt werden darf. Nur in diesem Sinne ist der Besitz heilig.
Du sollst in diesem Sinne eine heilige Scheu haben vor dem, was dem Andern gehört.
Du sollst ihm nichts rauben, nichts antasten. Du sollst vielmehr auch für sein Recht kämpfen, besonders für das der Armen und Bedrückten. Ausbeutung darf nicht sein. Jeder hat von Gott sein heiliges Recht, im Materiellen wie im Geistigen. Du darfst dem Andern auch nicht Liebe, Ehre, Glück, Geltung stehlen. Du sollst ihm geben, was ihm gehört. In diesem Sinne soll heilige Scheu vor dem Eigentum walten.
Frage: Ist Eigentum also erlaubt?
Antwort: Rechtes Eigentum ist erlaubt.
Frage: Was ist rechtes Eigentum?
Antwort: Rechtes Eigentum ist, was dem Andern wie mir selbst aus rechter Arbeit, rechtem Erbe, rechter Eigenart, rechter Einordnung in die Gemeinschaft gehört.
Rechtes Eigentum bedeutet eine Gesellschaftsordnung, die auf dem heiligen Recht Gottes für Alle beruht und in die sich Leben, Arbeit, Stellung und Besitz des Einzelnen einfügen.
Frage: Also Sozialismus oder gar Kommunismus?
Antwort: Sozialismus Gottes, wie ihn Moses und die Propheten vertreten, Kommunismus Christi, wie er aus der Bruderschaft quillt.
Frage: Aber solange diese nicht da sind?
Antwort: Solange sollen wir darum kämpfen. Solange sollen wir das heilige Recht Aller auf Eigentum ehren. Solange sollen wir auch dem Gesetz gehorchen, welches das heutige Eigentum schützt, aber mit Ehrfurcht nur dann, wo es rechtes Eigentum ist, wo es dem heiligen Recht Gottes entspricht. Viel heutiges Eigentum ist sehr unheilig.
Frage: Hat nicht Proudhon gesagt, das Eigentum sei Diebstahl?
Antwort: Er hat es nicht wörtlich gesagt, aber dem Sinne nach. Nämlich von dem Eigentum, das nicht recht ist. Von dem Eigentum, das ein Raub an dem Erbe Gottes für Alle zugunsten Einzelner ist. Und gilt das nicht von vielem Eigentum? Gilt es nicht allgemein von der heutigen Eigentumsordnung als Teil unserer Wirtschaftsordnung? Diebstahl ist jede Aneignung des allgemeinen Gutes für die Besitzgier, die Macht, den Genuß des Einzelnen, der Familie, der Klasse. Diebstahl ist jede Ausbeutung der Kraft, der Gesundheit, der Begabung des Menschen für das Interesse Anderer. Diebstahl (und Verbrechen) ist in gesteigertem Maße die leibliche oder seelische Ausbeutung der Schwachen oder Armen, besonders auch der Frauen und Kinder. Diebstahl ist Überarbeitung im Dienste eines Interesses. Diebstahl sind finanzielle Machinationen zu Ungunsten der Masse. Diebstahl ist das Kapital, als Mittel und Zweck einer Profitwirtschaft verstanden. Auch der Zins kann Diebstahl sein. Diebstahl ist alles nicht auf Arbeit begründete Einkommen. Diebstahl ist die Ausbeutung des Wohnens, der Kleidung, des Essens und Trinkens, des Spiel- und Genußtriebes, der Menschen durch die Gewinnspekulation. Diebstahl ist ganz besonders die Aneignung von Grund und Boden durch Wenige. Diebstahl ist die Wegnahme von Land, das einem Volke gehört, durch ein anderes Volk, also der ganze Imperialismus und vor allem das bisherige Kolonialsystem. Diebstahl an Gott und Menschen ist die Verheerung der Natur im Dienste des Mammons. Diebstahl an Gott und dem Menschen ist die Anbetung des goldenen Kalbes. Und damit sind wir wieder bei den ersten zwei Geboten angelangt.
Diesen umfassenden Sinn hat das Gebot: «Du sollst nicht stehlen!» Es ist eine heilige Grundordnung der Menschenwelt, und zwar nicht nur eine das Vorhandene erhaltende, sondern auch eine revolutionäre neue Ordnung fordernde. Eine Gesellschaft, die es nicht beachtet, verfällt dem Gericht. Aber auch dieses Gebot darf, wie gesagt, nicht nur negativ verstanden werden. Es ist die Aufforderung zum Kampf um das rechte Eigentum, um eine auf Arbeit gegründete, vom heiligen Gottesrecht lebende, von Mammonismus, Ausbeutung und Versklavung befreite Ordnung des Volkslebens wie des Völkerlebens, vom kleinsten Kreise bis zum größten.
Das neunte Gebot: Du sollst die Wahrheit vertreten!
«Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten!»
Frage: Was bedeutet das? Richtet es sich bloß gegen eine falsche Zeugenaussage vor Gericht?
Antwort: Es hat einen viel umfassenderen Sinn. Es bedeutet: Heilig ist die Wahrheit. Sie ist eine der göttlichen Grundordnungen der menschlichen Gemeinschaft. Ohne Wahrheit verfällt diese dem Chaos und der Hölle, dem Bürgerkrieg und dem Völkerkrieg. Nur auf dem Felsengrund der Wahrheit, und zwar der unbedingten, aus dem Heiligen stammenden Wahrheit gibt es wirkliche Einheit, wie es auch nur auf diesem Grunde wirkliches Recht gibt; ohne sie gibt es nur Zwang und Gewalt. Nur auf diesem Boden gibt es Treue, ohne ihn verfallen die Seelen und mit ihnen die Gemeinschaften der inneren Auflösung. Diese Wahrheit aber kommt allein von Gott, dem Einen und heiligen Gott. Gott ist die Wahrheit. Was gegen die Wahrheit ist, das ist gegen Gott. Auf jedem Menschen ruht neben dem heiligen Recht auf Ehrfurcht, Leben, Eigentum auch das Recht auf Wahrheit. Heilig ist seine Ehre, seine Würde, sein guter Name, aber auch seine eigene Art, sein eigener Weg. Wenn du ihm dieses Recht nicht gibst, so versündigst du dich gegen die Ehrfurcht, die du von Gott aus vor ihm haben solltest. Wenn du ihm etwas davon nimmst, so bist du ein Dieb. Wenn du ihn verleumdest, bist du ein Mörder. Hüte deine Zunge und deine Feder davon! Gib ihm das Recht der Wahrheit und damit Gott die Ehre!
Aber du sollst ihm nicht bloß nicht seine Wahrheit stehlen, sondern sollst sie ihm geben. Du sollst für ihn eintreten, wo sie ihm nicht gegeben wird, sollst dafür kämpfen, daß sie ihm gegeben werde. Denn die Wahrheit gehört, wie das Land und das Leben, Gott. Sie ist allgemeines Gut. Wir sollen nicht nur kein Zeugnis gegen die Wahrheit geben, sondern auch Zeugnis für die Wahrheit. Und nicht nur im Einzelnen von Mensch zu Mensch, sondern auch im öffentlichen Leben: in der Politik, in der Kultur, in der Religion, in der Familie, im Volke, im Bereiche des Christentums, in der Menschheit, im Reiche Gottes. Wir sollen den Kampf der Wahrheit führen. Wir sollen dafür kämpfen, daß immer mehr Wahrheit werde. Wir sollen allen Mächten der Unwahrheit entgegentreten. Wir sollen Wahrheitszeugen sein. Das bedeutet das Wort Märtyrer. Es bedeutet besonders, daß wir auch Anfechtung, Verfolgung, Verkennung und Leiden jeder Art, unter Umständen sogar den Tod um der Wahrheit willen auf uns nehmen sollen. Denn man muß der Wahrheit ganz dienen. Man kann nicht im privaten Leben wahr und im öffentlichen unwahr sein. Die Wahrheit ist ein Ganzes. Wir sind ihr als Ganzem verpflichtet. Denn sie ist Gott.
Darum auch ist vor allem nicht zu vergessen: Wir sollen nicht bloß die Wahrheit reden, sondern sollen wahr sein. Und wir sollen nicht nur die Wahrheit verkündigen, sondern die Wahrheit tun. Von der Wahrheit und dem Wahrheitsdienst, wie von Recht, Reinheit und Freiheit, leben die Völker wie die Einzelnen. Sie allein ist auch der Friede – nicht etwa das Zudecken der Wahrheit.
Frage: Ist Wahrheit und Wahrheitsdienst, so verstanden, nicht eine schwere Sache?
Antwort: Es ist die schwerste von allen, aber auch die seligste. Es ist der schwerste, aber auch der schönste Dienst Gottes.
Frage: Kann man aber immer wahr sein? Ist nicht Notlüge erlaubt? Muß man nicht oft um der Wahrheit willen mit der Wahrheit zurückhalten?
Antwort: Doch, das muß man. Was die sogenannte Notlüge betrifft, so soll Wahrheit nur walten, wo die Wahrheit um der Wahrheit willen, nicht um anderer Zwecke willen, gefordert wird. Die Wahrheit kann auch nur in Wahrheit vertreten werden. Wahrheit setzt Vertrauen und Ehrlichkeit voraus; Wahrheit ist nicht eine Form, sondern ein Geist. Wahrheit muß ihre Mitteilung nach Ort, Zeit, Umständen, Personen richten. Christus verlangt, daß wir unsere Perlen nicht vor die Säue werfen, daß wir offen seien wie die Tauben und zurückhaltend wie die Schlangen. Wahrheit darf kein äußerliches Gesetz sein, sondern muß immer frisch aus ihrem Born strömen: aus dem lebendigen Gott. Gerade so wird sie auch eine unerschöpfliche Aufgabe, ein ewig lebendiger Kampf. So quillt ihre Heiligkeit aus dem heiligen Gott. Er ist die Wahrheit. Wehe, wer gegen sie verstößt, Einzelmenschen oder Volk! Wohl dem, der ihr gehorcht, Einzelmensch oder Volk! Wahrheit ist die stets neue Reinigung und Heiligung des einzelnen Menschen wie der Gemeinschaften vor Gott, durch Gott, zu Gott.
Zehntes Gebot: Du sollst nicht begehren!
«Du sollst nicht begehren nach dem Hause deines Nächsten. Du sollst nicht begehren nach dem Weibe deines Nächsten, nach seinem Knechte oder seiner Magd, nach seinem Rinde oder seinem Esel, nach irgend etwas, das dein Nächster hat.»
Frage: Was bedeutet das Nicht-Begehren?
Antwort: Es bedeutet sehr Tiefes und Entscheidendes. Wir kehren damit zum ersten Gebot zurück. Dort haben wir gezeigt, wie alles darauf ankommt, daß wir Gott als den Einen Herrn anerkennen. Aus ihm fließt Leben, Fülle, Freude, Frieden. Sobald wir aber von ihm weichen, ist die heilige Fessel gelöst, welche die Unendlichkeit in uns an Gott band, und hervor stürzt die Gier, die unendliche Gier, welche statt der verlorenen Unendlichkeit Gottes die falsche Unendlichkeit der Welt sucht: Macht, Ehre, Genuß, und doch nie satt wird. Eine Schwester und Verbündete der Gier ist die Angst. Man fürchtet, zu kurz zu kommen, vor dem Schicksal und vor den Menschen, darum rafft man so viel an sich als man kann. Man möchte sich gegen das Schicksal und gegen die Menschen schützen, gegenüber jenem Sicherheit schaffen und diesen gegenüber Macht und Geltung. Man möchte der Sorge entgehen und der Armut. Aus der Verbindung zwischen Gier und Angst entsteht die Raffgier.
Aus dieser mit der Angst verbündeten Gier entsteht alles Übel der Welt, das physische wie das seelische. Nachdem das Band gelöst ist, das die Geschöpfe an Gott bindet, fahren sie in unendlichem Egoismus auseinander und möchten ein jedes Alles haben. Es entsteht die Gier nach Geld und Gut, nach Macht, nach Geltung, nach sogenannter Liebe. Es gilt nicht mehr das heilige Recht, das auf der Schöpfung ruht, auf Mann und Frau, Jugend und Alter, Stark und Schwach, auf jedem Volk, auf jeder Rasse, auf jeder Kultur. Es fehlt die Fülle, die aus Gott strömt und im tiefsten zufrieden macht und damit den Frieden schafft. Einer tastet an, was des Anderen ist. Der Mammonismus entsteht, der Kapitalismus, der Nationalismus, der Imperialismus, der Militarismus. Der Sabbat gilt nicht mehr. Die Ehrfurcht des Menschen vor dem Menschen gilt nicht mehr. Die Heiligkeit von Mann und Frau gilt nicht mehr. Das Leben gilt nicht mehr. Das Eigentum gilt nicht mehr. Die Wahrheit gilt nicht mehr. Alles wird Gegenstand der Gier. Wir haben heute dieses Chaos der Gier vor uns, das zur Hölle wird.
Frage: Wie kann hier geholfen werden?
Antwort: Nur auf die eine Weise: durch die Umkehr zu Gott und seinem Gesetz. Zu seinem Leben und seiner Fülle. Zur heiligen Scheu vor seiner Schöpfung und seinen Ordnungen. Zu der Erlösung von der Gier. Zum Gottesfrieden im Gottesrechte. Zu der Sicherheit in Gottes Macht und Schutz. Denn auch die Angst, die verbunden mit der Gier zur Raffgier wird, kann nur überwunden werden durch Gott. Er allein ist wirkliche Sicherheit. Er allein befreit von der Sorge. Er allein gibt uns Gewähr für das, was wir wirklich brauchen. Er allein sorgt dafür, daß wir nicht auf eine uns vernichtende Weise zu kurz kommen, weder vor dem Schicksal noch vor den Menschen. Er ersetzt unser Zukurzkommen aus seiner Macht und seinem Reichtum. Es gilt die Losung: Trachtet zuerst nach seinem Reiche und seiner Gerechtigkeit und alles, wessen ihr wirklich bedürft, wird euch hinzugefügt werden. Zu der Gottesfurcht und der Gottesliebe muß überall sich das Gottvertrauen gesellen. Sie bilden alle drei die Voraussetzung und Bürgschaft für alle zehn Gebote.
III. Nochmals der Sinn der Zehn Gebote
Das ist der Weg zur Erfüllung der Zehn Gebote. Sie hängen alle an dem Einen, dem Ersten: «Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft geführt hat (und führt!); du sollst keine andern Götter haben neben mir.» Es ist ein unendlicher Sinn. Die Worte der Zehn Gebote weisen bloß auf ihn hin, und diese Erklärung will erst recht nicht mehr als das sein. Die Zehn Gebote sind ein unendliches Bergwerk der Wahrheit Gottes. Sie sind, als ewig, immer jung. Sie sind für jede Zeit, jeden Ort und jede Lage die Wahrheit. Sie gewinnen immer neue Aktualität. Wie könnte eine Erklärung beanspruchen, sie zu erschöpfen? So wenig kann das geschehen, als ein Gefäß voll von Goldstücken ein Goldbergwerk erschöpft. Und noch weniger. Je mehr du schöpfest, desto unerschöpflicher wird das Bergwerk. Denn es ist ja der heilige und lebendige Gott selbst. Eine Erklärung wie die vorliegende ist nur eine dürftige Anleitung zum Verständnis der Zehn Gebote. Du mußt selbst sie erklären, und das heißt: dich unter Gottes Herrschaft stellen, die dich frei und wahr macht.
Frage: Sollen wir alle Zehn Gebote immer vor Augen haben?
Antwort: Es gibt im Grunde nicht Zehn Gebote, sondern nur Eins: Gott vor Augen zu haben, als Herrn und Vater. Aus ihm quillt die ganze Wahrheit, auf welche die Zehn Gebote hinweisen – seine unendliche und lebendige Wahrheit.
Frage: Sind die Zehn Gebote die letzte Wahrheit?
Antwort: Auf ihrem Felde wohl. Aber die Erfüllung und damit die Auflösung des Gesetzes ist das Evangelium.
Frage: Ist das Gesetz eine Last?
Antwort: Es soll eine Lust sein. Es ist Freiheit. Das Evangelium ist die Vollendung dieser Freiheit. Es ist Erlösung von dem Gesetz, das vom lebendigen Gott gelöst Last, Joch, Maske, Gericht, Verdammnis geworden ist, aber es ist selbst, nach dem Apostel, das «vollkommene Gesetz der Freiheit» Jakobus 1, 25. Es ist in der Auflösung Erfüllung.