Der Nächste – Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter Lk 10,25-37
F. Welches ist denn dieser Sinn?
A. Vor allem müssen wir die übliche Deutung abstreifen, als ob Jesus damit das empfehlen wollte, was wir, aus solcher Missdeutung heraus, eben Samariterdienste nennen: barmherzige Pflege, unter Umständen auch Wildfremden angetan. Vor allem bedeutet es eine scharfe Gegenüberstellung von Religion und Reich Gottes. Und zwar vertreten, wie sich von selbst versteht, Priester und Levit die Religion, der unter die Räuber Gefallene aber – die soziale Frage. Für den Priester und Leviten kommt zuerst das Religiöse, und zwar so sehr, dass das Soziale darüber völlig vergessen wird. Der Priester liest sein Brevier. Er hat es mit theologischen und kirchlichen Problemen zu tun. Der Mann da am Weg – was ist er dagegen? Auch wüsste er ja gar nicht, wie er sich seiner annehmen sollte. An so etwas ist er nicht gewöhnt, das versteht er nicht. Ohnehin ist ja das innere Leben die Hauptsache.
Daß da ein Mann halbtot am Wege liegt, das gehört ja zum Bestand der Welt.
Die Welt, besonders Politik und Geschäft, haben nun einmal, auch nach Gottes Willen,
ihre „Eigengesetzlichkeit“. Er, der Mann der Kirche, hat vor allem dafür zu sorgen, dass eine „rechte Kirche“ sei; ihm liegt der Tempel am Herzen. Ungeheuer wichtig ist dabei die Frage des rechten Gottesdienstes, d.h. des Kultus…Es gehört dazu aber vor allem auch eine rechte Theologie, die für die Kirche in ein bindendes Bekenntnis gefasst werden müsste.
Die Frage, ob nur „Offenbarungstheologie“ oder auch „natürliche Theologie“ ist ihm wichtiger, als die Vergewaltigung Abessiniens oder der drohende Weltkrieg. Das sind schließlich Nebensachen! Das „Er sah und ging vorüber“ ist eine welt – und reichsgeschichtliche Tatsache von gewaltigster Bedeutung. Es ist das Symbol der Art, wie die Kirche und das offizielle Christentum je und je der sozialen Frage, die politische inbegriffen, begegnet sind.
F. Und der Levit?
A. Daß auch noch ein Levit vorübergeht, dient zur Verstärkung dieses Akzentes und hat
keine selbständige Bedeutung. Es soll durch diese Verstärkung hervorgehoben werden,
wie Religion, Kirche, Frömmigkeit in allen Formen von jener Denkweise beherrscht sind, die der Priester verkörpert. Die Leviten sind Tempeldiener, Handlanger der Priester.
Sie sind halb Theologen, halb Laien. Jenen Leviten mögen wohl Fragen beherrscht haben, wie die rechte Darbietung des Opfers in seinen Einzelheiten, vielleicht auch allerlei Probleme der sog. rituellen Reinheit, des gesetzlich richtigen Tuns in allem, und vielleicht nebenbei auch einige Standesinteressen, der Zehnte und ähnliches. Darüber blieb nicht Zeit und Auge für den am Wege liegende halbtoten Mann. Das war dem sauber religiösen Mann ohnehin eine unheimliche Sache. Da gab es Kampf, Mord, weltliche und dämonische Gewalten – diesem politisch-sozialen Wesen blieb man offenbar besser fern. Er tat, was sie alle tun, nicht im Kleinen – da gilt ja nun die „Liebestätigkeit“ als christlich und sauber -, aber im Großen, gegenüber der sozialen Not und dem sozialen Unrecht (auch hier das Politische inbegriffen): „Er sah und ging vorüber.“ Dem Priester und Leviten stellt Jesus den Samariter und damit der Religion das Reich Gottes gegenüber. Das ist die Vollendung dessen, was die großen Propheten sagen. Gott will nicht Kirche, Theologie und Frömmigkeit, sondern Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit des Reiches Gottes, und das bedeutet Recht, Barmherzigkeit und Demut. Er will Liebe, nicht Opfer. Das ist der einfache Sinn des Gleichnisses… Gottesdienst ist Menschendienst. Zu Gott gehört der Mensch. Das Soziale (das Politische inbegriffen) gehört zum Religiösen, beide bilden ein Herrschaftsgebiet Gottes. Das sieht anders aus als die übliche Auslegung, nicht wahr? Ich betone nochmals: Wir dürfen Jesus nicht zum erbaulichen Prediger harmloser Wahrheiten machen. Die Gleichnisse sind ungeheuer viel paradoxer und geistvoller (im höchsten Sinne des Wortes), ungeheuer viel revolutionärer, als man meint. Die gewöhnliche Auslegung ist eine gewaltig abschwächende Übermalung des ursprünglichen Gemäldes.
F. Ist damit der Sinn des Gleichnisses erschöpft?
A. Keineswegs. Er wird nur immer revolutionärer. Wir haben nun den Blick noch stärker
auf den Samariter zu richten. Die Samariter waren die großen Feinde der Juden und umgekehrt. Und dies gerade, weil immerhin zwischen ihnen eine gewisse Verwandtschaft vorhanden war. Jedenfalls verachteten die Juden die Samariter aufs tiefste. Diese waren für sie schlechterdings Gottlose. Und nun stellt Jesus gerade einen solchen Samariter den Trägern des Judentums als Vorbild hin. Das bedeutet ungefähr soviel, wie wenn man heute einer Versammlung von Nationalsozialisten einen Juden als Vorbild hinstellte oder einer Versammlung hochkonservativer Frommen einen Kommunisten und Atheisten. Nein, es bedeutet noch mehr, und war noch unerhörter, noch revolutionärer, noch anstößiger.
Wir können uns das kaum mehr vorstellen. Und nun müssen wir uns davor hüten, diesen Sachverhalt abzuschwächen und ihn etwa so zu deuten: Jesus will den Trägern des Judentums zeigen, dass es auch unter Vertretern einer andern Religion und eines andern Volkstums gute Menschen geben könne, sogar bessere als sie. Nein, es ist etwas viel Größeres und Paradoxeres, etwas Gewaltiges, was uns das Gleichnis sagt: Gott kann auch bei den Gottlosen sein und Gott kann bei den Frommen nicht sein. Die Frommen werden beschämt, ja gerichtet durch die Gottlosen. Gott ist da, wo sein Wille getan wird, sein Wille aber ist Gerechtigkeit, nicht Kultus, sein Wille ist Menschlichkeit. Gott hat eine Vorliebe für die Gottlosen – er dämpft damit den Hochmut der Gläubigen. Gott zieht die Welt dem Tempel vor – es ist ihm wichtiger, in der Welt zu gelten als im Tempel. Gott ist größer als die
Religion.
F. Aber wie ist es denn mit dem Problem des Nächsten?
A. Es kommt also im Verhältnis zu Gott nicht auf den Kultus an, sondern auf den Dienst am Menschen. Und zwar einfach am Menschen als Menschen. Bedenken wir: Von dem am Wege liegenden Mann wissen wir nicht nur nicht, welcher Religion er angehört, sondern auch nicht, welchem Volk oder welcher Rasse. Wir wissen nicht, ob er ein Jude ist oder ein Heide. Darnach fragt aber der Samariter auch gar nicht. Er hilft ihm, weil er ein Mensch ist und sich in äußerster Not befindet. Und darum stellt ihn Jesus als Vorbild hin. Denn der Mensch ist Gottes Kind – nicht auf dem Umweg über Volk und Rasse, aber auch nicht über Religion, Kirche, Bekenntnis, Frömmigkeit, sondern ganz direkt. Gott steht über der Religion.
Priester und Levit durften sich eigentlich dem Manne am Wege gar nicht nähern, denn sie konnten dadurch verunreinigt werden. Das spielt bei den Juden ja eine fundamentale Rolle. Der Mann konnte tot sein und ein Jude durfte keinen Leichnam berühren, ohne unrein zu werden. Der Mann konnte ein Heide sein und auch die Berührung eines solchen machte unrein. So aber ist es bis heute: dass Sitte, Volkstum, Rasse und vor allem die Religion den Menschen vom Menschen trennen. Alle diese Schranken hebt Jesus auf – alle. Er hebt aber vor allem die Religionsschranke, und damit den Religionsbann und die Religionsangst auf. Und das ist der Gipfel der sozialen Erlösung. Jesus stellt den Menschen von Gott aus unmittelbar vor den Menschen mit seiner Verpflichtung gegen denselben. Die Verpflichtung wird auch in diesem Sinne unendlich. Denn sie wird schrankenlos. Sie gilt, so weit Gott reicht und gilt somit, so weit der Mensch reicht. Es ist die tiefste soziale Revolution. Der Nächste ist der Mensch, und zwar besonders, sobald er deiner Hilfe bedarf. Es gehört zur Paradoxie des Gleichnisses, dass es ja gerade den Fernsten zum Nächsten macht. Denn der Mann am Wege ist ja dem Priester und dem Leviten fern, weltenfern, jenseits der großen Kluft. Und doch der Nächste vor Gott.
Der Mensch, der nur an sein eigenes Seelenheil denkt, ist so nützlich wie ein Stück
Kohle, das man aus dem Feuer holt. James Jones (in Der schmale Grat)