„Voglio piangere“ (Bononcini) Lavinia Bertotti
Lavinia Bertotti – Voglio piangere – Maddalena – Bononcini
A. Caldara : Maddalena ai Piadi di Cristo „Voglio piangere“
In lagrime stemprato il cor qui cade (Caldara) Maria Cristina Kiehr
DAS GEBET IM LEBEN JESU
Liebe Brüder und Schwestern!
In den letzten Katechesen haben wir über einige Beispiele für das Gebet im Alten Testament nachgedacht. Heute möchte ich beginnen, auf Jesus zu blicken, auf sein Gebet, das sein ganzes Leben durchzieht, wie ein verborgener Kanal, der das Leben, die Beziehungen, das Handeln bewässert und ihn mit immer größerer Entschlossenheit zur völligen Selbsthingabe führt, gemäß dem Liebesplan Gottes, des Vaters. Jesus ist der Lehrmeister auch für unser Gebet, und er stützt auf wirksame und brüderliche Weise unsere Hinwendung zum Vater. Ein Titel des Kompendiums des Katechismus der Katholischen Kirche fasst es so zusammen: »In Jesus wird das Gebet vollständig offenbart und verwirklicht« (541-547). Ein besonders bedeutender Augenblick seines Weges ist das Gebet, das auf die Taufe folgt, der er sich im Jordan unterzieht. Der Evangelist Lukas sagt, dass Jesus, nachdem er zusammen mit dem ganzen Volk durch die Hand Johannes des Täufers die Taufe empfangen hat, in ein sehr persönliches und langes Gebet eintritt: »Zusammen mit dem ganzen Volk ließ auch Jesus sich taufen. Und während er betete, öffnete sich der Himmel, und der Heilige Geist kam … auf ihn herab« (Lk 3,21-22). Gerade dieses »Beten«, dieses Verharren im Gespräch mit dem Vater erleuchtet die Tat, die er vollzogen hat, zusammen mit vielen Menschen seines Volkes, die an das Ufer des Jordan hinausgezogen sind.
Durch die Übermittlung der Episode des zwölfjährigen Jesus im Tempel, der mitten unter den Lehrern sitzt (vgl. Lk 2,42-52), lässt der Evangelist Lukas uns erkennen, dass für Jesus, der nach der Taufe im Jordan betet, das innige Gebet zu Gott, dem Vater, eine langgepflegte Gewohnheit ist, verwurzelt in den Traditionen, im Stil seiner Familie, in den entscheidenden Erfahrungen, die er in ihr erlebt. Die Antwort, die der Zwölfjährige Maria und Josef gibt, weist bereits auf die göttliche Sohnschaft hin, die die himmlische Stimme nach der Taufe offenbart: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« (Lk 2,49).. Die Lehre Jesu über das Gebet entspringt gewiss seiner Art zu beten, die er in der Familie erworben hat; sie hat jedoch ihren tiefen und wesentlichen Ursprung in seiner göttlichen Sohnschaft, in seiner einzigartigen Beziehung zu Gott, dem Vater. Das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche antwortet auf die Frage: »Von wem hat Jesus beten gelernt?«, so: »In seinem menschlichen Herzen hat Jesus von seiner Mutter und von der jüdischen Tradition beten gelernt. Sein Gebet entspringt aber auch einer anderen verborgenen Quelle: Er ist der ewige Sohn Gottes, der in seiner heiligen Menschheit das vollkommene kindliche Gebet an den Vater richtet« (541).
Liebe Brüder und Schwestern, wir haben für einen Augenblick den Reichtum dieses Gebets Jesu gekostet. Auch wir können uns mit der Gabe seines Geistes an Gott wenden, im Gebet, mit kindlichem Vertrauen und ihn als Vater anrufen, »Abba«. Aber wir müssen das Herz der Kleinen haben, derer, »die arm sind vor Gott«, um zu erkennen, dass wir uns nicht selbst genügen, dass wir unser Leben nicht allein aufbauen können, sondern dass wir Gott brauchen, dass wir ihm begegnen, ihm zuhören, mit ihm sprechen müssen. Das Gebet öffnet uns, die Gabe Gottes zu empfangen, seine Weisheit, die Jesus selbst ist, um den Willen des Vaters für unser Leben zu tun und so Ruhe zu finden in den Mühen unseres Weges.
DAS GEBET JESU ZUM SEGNENDEN UND HEILENDEN GOTT
Von Anfang an setzt Jesus das Ereignis in Beziehung zu seiner eigenen Identität und Sendung sowie zur Verherrlichung, die ihn erwartet. Denn als er von der Krankheit des Lazarus erfährt, sagt er: »Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden« (Joh 11,14). Auch die Nachricht vom Tod des Freundes wird von Jesus mit tiefem menschlichem Schmerz aufgenommen, aber stets deutlich in Zusammenhang gestellt mit der Beziehung zu Gott und mit der Sendung, die er ihm anvertraut hat. Er sagt: »Lazarus ist gestorben. Und ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt« (Joh 11,14-15). Der Augenblick, in dem Jesus vor dem Grab ausdrücklich zum Vater betet, ist das natürliche Ziel des ganzen Ereignisses, das im zweifachen Spannungsfeld zwischen der Freundschaft mit Lazarus und der Sohnesbeziehung zu Gott steht. Auch hier gehören die beiden Formen der Beziehung zusammen. »Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast« (Joh 11,41): Es ist eine Danksagung, eine Eucharistie. Der Satz zeigt, dass Jesus keinen Augenblick lang nachgelassen hat, für das Leben des Lazarus zu beten. Dieses unablässige Gebet hat das Band mit dem Freund sogar noch gestärkt und gleichzeitig die Entscheidung Jesu bestätigt, in Gemeinschaft mit dem Willen des Vaters zu bleiben, mit seinem Liebesplan, in dem die Krankheit und der Tod des Lazarus als ein Ort betrachtet werden, an dem die Herrlichkeit Gottes offenbar wird.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir diese Erzählung lesen, ist jeder von uns aufgerufen zu verstehen, dass wir beim Gebet zum Herrn nicht die unmittelbare Erfüllung dessen erwarten dürfen, worum wir bitten, sondern uns vielmehr dem Willen des Vaters anvertrauen und jedes Ereignis im Hinblick auf seine Herrlichkeit, auf seinen Liebesplan verstehen müssen, der in unseren Augen oft geheimnisvoll ist. Daher müssen in unserem Gebet immer Bitte, Lob und Danksagung in eins gehen, auch wenn Gott nicht auf unsere konkreten Erwartungen zu antworten scheint. Die Hingabe an die Liebe Gottes, die uns vorausgeht und uns immer begleitet, ist eine der Grundhaltungen in unserem Gespräch mit ihm. Der Katechismus der Katholischen Kirche kommentiert das Gebet Jesu im Bericht der Auferweckung des Lazarus so: »Das Gebet Jesu, das von Danksagung getragen ist, offenbart uns, wie wir bitten sollen: Schon bevor die Gabe geschenkt wird, stimmt Jesus Gott zu, der gibt und der sich selbst in seinen Gaben schenkt. Der Geber ist wertvoller als die gewährte Gabe. Er ist der Schatz, und bei ihm ist das Herz seines Sohnes. Die Gabe selbst wird dazugegeben (vgl. Mt 6,21.33)« (2604). Das scheint mir sehr wichtig: bevor die Gabe gewährt wird, dem zuzustimmen, der gibt; der Geber ist wertvoller als die Gabe. Über all das hinaus, was Gott uns gibt, wenn wir ihn bitten, ist die größte Gabe, die er uns geben kann, seine Freundschaft, seine Gegenwart, seine Liebe. Er ist der kostbare Schatz, um den wir bitten und den wir stets bewahren müssen.. Das Gebet, das Jesus spricht, als der Stein vom Eingang des Grabes des Lazarus weggenommen wird, nimmt außerdem eine einzigartige und unerwartete Wendung. Denn nachdem er Gott, dem Vater, gedankt hat, fügt er hinzu: »Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast« (Joh 11,42). Mit seinem Gebet will Jesus zum Glauben führen, zum völligen Vertrauen auf Gott und auf seinen Willen, und will zeigen, dass dieser Gott, der den Menschen und die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn sandte (vgl. Joh 3,16), der Gott des Lebens ist, der Gott, der Hoffnung bringt und in der Lage ist, menschlich unmögliche Situationen umzukehren. Das vertrauensvolle Gebet eines Gläubigen ist also ein lebendiges Zeugnis für die Gegenwart Gottes in der Welt, seine Fürsorge für den Menschen, sein Wirken zur Umsetzung seines Heilsplans.
DAS GEBET UND DIE HEILIGE FAMILIE VON NAZARET
Liebe Freunde, aufgrund dieser verschiedenen Aspekte, die ich im Licht des Evangeliums kurz dargelegt habe, ist die Heilige Familie das Bild der Hauskirche, die berufen ist, gemeinsam zu beten. Die Familie ist Hauskirche und muss die erste Schule des Gebets sein.
In der Familie können die Kinder von zartem Alter an lernen, den Sinn für Gott wahrzunehmen, dank der Unterweisung und des Vorbilds der Eltern: in einer Atmosphäre leben, die von der Gegenwart Gottes geprägt ist. Eine wirklich christliche Erziehung kann nicht von der Erfahrung des Gebets absehen. Wenn man in der Familie nicht beten lernt, wird es später schwierig sein, diese Leere zu füllen. Und daher möchte ich euch einladen, die Schönheit wiederzuentdecken, gemeinsam als Familie in der Schule der Heiligen Familie von Nazaret zu beten und so wirklich ein Herz und eine Seele zu werden, eine wahre Familie.
DAS GEBET JESU BEIM LETZTEN ABENDMAHL
Gegen Ende des Mahls sagt er zu ihm: »Simon, Simon, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf. Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht er- lischt. Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder« (Lk 22,31-32). Als auch für seine Jünger die Prüfung naht, stützt das Beten Jesu ihre Schwachheit, ihre Mühe zu verstehen, dass Gottes Weg durch das Ostermysterium des Todes und der Auferstehung hindurchführt, vorweggenommen in der Darbringung von Brot und Wein. Die Eucharistie ist die Speise der Pilger, die zur Kraft wird auch für den, der müde, erschöpft und orientierungslos ist. Und das Gebet gilt insbesondere Petrus, damit er, wenn er sich wieder bekehrt hat, seine Brüder im Glauben stärke. Der Evangelist Lukas erinnert daran, dass der Blick Jesu das Angesicht des Petrus in dem Augenblick suchte, in dem er gerade seine dreifache Verleugnung begangen hatte, um ihm die Kraft zu geben, den Weg der Nachfolge wieder aufzunehmen: »Im gleichen Augenblick, noch während er redete, krähte ein Hahn. Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte« (Lk 22,60-61).
Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir an der Eucharistie teilnehmen, leben wir in außerordentlicher Weise das Gebet, das Jesus für jeden dargebracht hat und unablässig darbringt, auf dass das Böse, dem wir alle im Leben begegnen, nicht siegen und die verwandelnde Kraft des Todes und der Auferstehung Christi in uns wirken möge. In der Eucharistie antwortet die Kirche auf das Gebot Jesu: »Tut dies zu meinem Gedächtnis!« (Lk 22,19; vgl. 1 Kor 11,24-26); sie wiederholt das Dank- und Segensgebet und mit ihm die Worte der Transsubstantiation von Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn. Unsere Eucharistiefeiern sind ein Hineingezogensein in jenen Augenblick des Betens, in dem wir uns immer wieder mit dem Beten Jesu vereinen. Die Kirche hat von ihren Anfängen an die Wandlungsworte als Teil ihres Betens im Mitbeten mit Jesus aufgefasst; als zentralen Teil des dankenden Lobpreises, durch den uns die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit von Gott her neu geschenkt wird als Jesu Leib und Blut, als Selbstschenkung Gottes in der sich öffnenden Liebe seines Sohnes (vgl. Jesus von Nazareth, II, S. 149). Indem wir an der Eucharistie teilnehmen und uns vom Fleisch und vom Blut des Sohnes Gottes nähren, vereinigen wir unser Beten mit dem des Paschalammes in seiner höchsten Nacht, auf dass unser Leben trotz unserer Schwäche und unserer Untreue nicht verloren gehe, sondern verwandelt werde.
Liebe Freunde, wir wollen den Herrn bitten, dass unsere für das christliche Leben unverzichtbare Teilnahme an der Eucharistie – nachdem wir uns auch durch das Bußsakrament gebührend vorbereitet haben – stets der höchste Punkt all unseres Betens sein möge. Bitten wir, dass auch wir, zutiefst mit seiner Hingabe an den Vater vereint, unsere Kreuze in ein freies und verantwortungsvolles Opfer der Liebe zu Gott und zu den Brüdern verwandeln können.
DAS GEBET JESU IN GETSEMANI
So sagt Jesus uns, dass der Mensch nur in der Angleichung des eigenen Willens an den göttlichen Willen zu seiner wahren Größe gelangt, »göttlich« wird. Nur wenn man aus sich herauskommt, nur im »Ja« zu Gott wird Adams und unser aller Verlangen erfüllt: das Verlangen, gänzlich frei zu sein. Das ist es, was Jesus in Getsemani vollbringt: Durch das Hineinnehmen des menschlichen Willens in den göttlichen Willen wird der wahre Mensch geboren und sind wir erlöst. Das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche lehrt zusammenfassend: »Das Gebet Jesu während seiner Todesangst im Garten von Getsemani und seine letzten Worte am Kreuz offenbaren die Tiefe seines Betens als Sohn: Jesus erfüllt den Ratschluss der Liebe des Vaters und nimmt alle Ängste der Menschen, alles Flehen und Bitten der Heilsgeschichte auf sich. Er bringt sie zum Vater, der sie annimmt und über alle menschliche Hoffnung hinaus erhört, indem er ihn von den Toten auferweckt« (Nr. 543). Denn »nirgends sonst in der Heiligen Schrift schauen wir so tief in das innere Geheimnis Jesu hinein wie im Ölberggebet« (Jesus von Nazareth, II, 179).
Liebe Brüder und Schwestern, jeden Tag bitten wir im Gebet des Vaterunser den Herrn: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden« (vgl. Mt 6,10). Das heißt, wir erkennen, dass es einen Willen Gottes mit uns und für uns gibt, einen Willen Gottes für unser Leben, der jeden Tag immer mehr zum Bezugspunkt unseres Willens und unseres Seins werden muss. Außerdem erkennen wir, dass der Wille Gottes im »Himmel« geschieht und dass die »Erde« nur dann zum »Himmel« – zum Ort der Gegenwart der Liebe, der Güte, der Wahrheit, der göttlichen Schönheit – wird, wenn auf ihr der Wille Gottes geschieht. Im Beten Jesu zum Vater in jener schrecklichen und wunderbaren Nacht in Getsemani ist die »Erde« zum »Himmel« geworden; die »Erde« seines menschlichen Willens, der von Furcht und Angst erschüttert war, ist in seinen göttlichen Willen hineingenommen worden, so dass der Wille Gottes sich auf der Erde erfüllt hat. Und das ist auch in unserem Beten wichtig: Wir müssen lernen, uns der göttlichen Vorsehung stärker anzuvertrauen, müssen Gott um die Kraft bitten, aus uns selbst herauszukommen, um ihm gegenüber unser »Ja« zu erneuern, um ihm immer wieder zu sagen: »Dein Wille geschehe«, um unseren Willen dem seinen anzugleichen. Darum müssen wir täglich beten, denn es ist nicht immer leicht, uns dem Willen Gottes anzuvertrauen, das »Ja« Jesu, das »Ja« Marias zu wiederholen. Die Evangeliumsberichte von Getsemani zeigen schmerzhaft, dass die drei Jünger, die Jesus dazu auserwählt hat, in seiner Nähe zu sein, nicht in der Lage waren, mit ihm zu wachen, an seinem Gebet, an seiner Zustimmung zum Vater teilzuhaben, und vom Schlaf übermannt wurden.
Liebe Freunde, bitten wir den Herrn, in der Lage zu sein, mit ihm im Gebet zu wachen, dem Willen Gottes jeden Tag zu folgen, auch wenn er vom Kreuz spricht, in immer größerer Vertrautheit mit dem Herrn zu leben, um auf diese »Erde« ein wenig von Gottes »Himmel« zu bringen.
DAS GEBET JESU IM ANGESICHT DES TODES
Kehren wir zum Bericht des hl. Markus zurück: Angesichts der Beschimpfungen durch verschiedene Kategorien von Personen, angesichts der Finsternis, die in dem Augenblick, in dem er dem Tod gegenübersteht, über alles hereinbricht, zeigt Jesus durch seinen Gebetsruf, dass er zusammen mit der Last des Leidens und des Todes, in dem Gott ihn verlassen zu haben scheint, in dem er abwesend zu sein scheint, dass er sich der Nähe des Vaters, der diesen höchsten Akt der Liebe, der Ganzhingabe seiner selbst, annimmt, völlig gewiss ist, obgleich man nicht, wie in anderen Augenblicken, die Stimme von oben hört. Beim Lesen der Evangelien merkt man, dass für Jesus bei anderen wichtigen Ereignissen seines irdischen Lebens zu den Zeichen für die Gegenwart des Vaters und die Annahme seines Weges der Liebe auch die klärende Stimme Gottes gehörte. So war nach der Taufe im Jordan, als der Himmel sich öffnete, das Wort des Vaters zu vernehmen: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden« (1,11). Bei der Verklärung kam dann zu dem Zeichen der Wolke das Wort hinzu: »Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören« (Mk 9,7). Auf das Herannahen des Todes des Gekreuzigten senkt sich jedoch das Schweigen; es ist keine Stimme zu hören, aber der liebevolle Blick des Vaters bleibt fest auf die Liebesgabe des Sohnes geheftet. Aber welche Bedeutung hat das Gebet Jesu, jener Ruf, den er an den Vater richtet: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«? Zweifelt er an seiner Sendung, an der Gegenwart des Vaters? Enthält dieses Gebet etwa nicht das Bewusstsein um das eigene Verlassensein? Die Worte, die Jesus an den Vater richtet, sind der Anfang von Psalm 22, in dem der Psalmist Gott die Spannung zwischen seinem Gefühl des Verlassenseins und dem sicheren Bewusstsein um Gottes Gegenwart inmitten seines Volkes offenbart. Der Psalmist betet: »Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; / ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe. Aber du bist heilig, / du thronst über dem Lobpreis Israels« (V. 3-4). Der Psalmist spricht vom »Rufen«, um das ganze Leiden seines Gebets zu dem scheinbar abwesenden Gott zum Ausdruck zu bringen: Im Augenblick der Angst wird das Beten zum Rufen. Und das geschieht auch in unserer Beziehung zum Herrn: Angesichts der schwierigsten und schmerzlichsten Situationen, wenn Gott uns nicht zu hören scheint, brauchen wir keine Angst haben, ihm die ganze Last anzuvertrauen, die wir in unserem Herzen tragen, dürfen wir keine Angst haben, vor ihm unser Leid herauszuschreien, müssen wir überzeugt sein, dass Gott nahe ist, auch wenn er scheinbar schweigt. Indem er am Kreuz gerade die Anfangsworte des Psalms wiederholt: »Eli, Eli, lema sabachtani?« – »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46), indem er die Worte des Psalms ruft, betet Jesus im Augenblick der äußersten Ablehnung durch die Menschen, im Augenblick des Verlassenseins. Durch den Psalm betet er jedoch im Bewusstsein um die Gegenwart Gottes, des Vaters, auch in dieser Stunde, in der er das menschliche Drama des Todes spürt. Aber eine Frage kommt in uns auf: Wie ist es möglich, dass ein so mächtiger Gott nicht eingreift, um seinen Sohn dieser schrecklichen Prüfung zu entziehen? Es ist wichtig zu verstehen, dass das Gebet Jesu nicht der Ruf dessen ist, der mit Verzweiflung dem Tod entgegengeht, und auch nicht der Ruf dessen, der sich verlassen fühlt. Jesus macht sich in jenem Augenblick den ganzen Psalm 22 zu eigen, den Psalm des leidenden Volkes Israel, und nimmt auf diese Weise nicht nur das Leiden seines Volkes auf sich, sondern das aller Menschen, die unter der Last des Bösen leiden. Gleichzeitig trägt er all das zum Herzen Gottes in der Gewissheit, dass sein Ruf in der Auferstehung erhört werden wird: »Der Ruf in der äußersten Not ist zugleich Gewissheit der göttlichen Antwort, Gewissheit des Heils – nicht nur für Jesus selbst, sondern für >viele<« (Jesus von Nazareth II, 238). In diesem Gebet Jesu sind das äußerste Vertrauen und die Hingabe in Gottes Hand enthalten, auch wenn er abwesend zu sein scheint, auch wenn er zu schweigen scheint, einem uns unverständlichen Plan folgend. Im Katechismus der Katholischen Kirche lesen wir: »Vielmehr hat er uns in seiner Erlöserliebe, die ihn immer mit dem Vater verband, so sehr angenommen in der Gottferne unserer Sünde, dass er am Kreuz in unserem Namen sagen konnte: >Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? <« (Nr. 603). Sein Leiden ist ein Leiden mit uns und für uns, das der Liebe entspringt, die die Erlösung, den Sieg der Liebe, bereits in sich trägt. Die unter dem Kreuz Jesu anwesenden Personen verstehen es nicht und meinen, dass sein Ruf ein an Elija gerichtetes Flehen sei. Aufgeregt versuchen sie, seinen Durst zu stillen, um sein Leben zu verlängern und zu sehen, ob Elija ihm tatsächlich zu Hilfe kommt, aber ein lauter Schrei setzt Jesu irdischem Leben und ihrem Wunsch ein Ende. Im letzten Augenblick lässt Jesus sein Herz seinen Schmerz zum Ausdruck bringen, aber gleichzeitig macht er das Bewusstsein um die Gegenwart des Vaters und die Zustimmung zu seinem Heilsplan für die Menschheit deutlich. Auch wir stehen immer wieder vor dem »Heute« des Leidens, des Schweigens Gottes – oftmals bringen wir das auch in unserem Beten zum Ausdruck – , aber wir stehen auch vor dem »Heute« der Auferstehung, der Antwort Gottes, der unsere Leiden auf sich genommen hat, um sie zusammen mit uns zu tragen und uns die feste Hoffnung zu geben, dass sie einst überwunden werden (vgl. Enzyklika Spe salvi, 35-40).
Liebe Freunde, im Gebet bringen wir unsere täglichen Kreuze vor Gott, in der Gewissheit, dass er gegenwärtig ist und uns erhört. Der Ruf Jesu erinnert uns daran, dass wir im Gebet die Grenzen unseres »Ichs« und unserer Probleme überwinden und uns den Nöten und dem Leid der anderen gegenüber öffnen müssen. Das Gebet Jesu, der am Kreuz stirbt, möge uns lehren, liebevoll zu beten für die vielen Brüder und Schwestern, die die Last des täglichen Lebens spüren, die schwierige Augenblicke erleben, die Schmerz leiden, die kein Wort des Trostes haben. All das wollen wir zum Herzen Gottes bringen, damit auch sie die Liebe Gottes spüren können, der uns nie verlässt.
BETEN UND SCHWEIGEN – JESUS, MEISTER DES GEBETS
Das Kreuz Christi zeigt nicht nur das Schweigen Jesu als sein letztes Wort zum Vater, sondern es offenbart auch, dass Gott durch das Schweigen spricht: »Das Schweigen Gottes, die Erfahrung der Ferne des allmächtigen Vaters, ist ein entscheidender Abschnitt auf dem irdischen Weg des Sohnes Gottes, des fleischgewordenen Wortes. Am Holz des Kreuzes hängend, hat er den Schmerz beklagt, den dieses Schweigen ihm zufügt: >Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?< (Mk 15,34; Mt 27,46). Gehorsam bis zum letzten Atemzug, hat Jesus in der Finsternis des Todes den Vater angerufen. Ihm vertraute er sich im Augenblick des Übergangs durch den Tod zum ewigen Leben an: >Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist< (Lk 23,46)« (Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini, 21). Die Erfahrung Jesu am Kreuz ist eine tiefe Offenbarung der Situation des betenden Menschen und des Höhepunkts des Gebets: Nachdem wir das Wort Gottes gehört und erkannt haben, müssen wir uns auch mit dem Schweigen Gottes messen, einem wichtigen Ausdruck des göttlichen Wortes. Die Dynamik von Wort und Stille, die das Beten Jesu während seines gesamten irdischen Lebens prägt, vor allem am Kreuz, berührt auch unser Gebetsleben in zwei Richtungen. Die erste betrifft die Annahme des Wortes Gottes. Es bedarf der inneren und äußeren Stille, um dieses Wort zu hören. Und das ist ein besonders schwieriger Punkt für uns in unserer Zeit. Denn in unserer Zeit wird die innere Sammlung nicht gefördert; manchmal hat man sogar den Eindruck, dass man Angst hat, sich auch nur für einen Augenblick von der Flut der Worte und Bilder zu lösen, die die Tage prägen und füllen. Daher habe ich in dem bereits erwähnten Schreiben Verbum Domini an die Notwendigkeit erinnert, uns zum Wert des Schweigens zu erziehen: »Die Zentralität des Wortes Gottes im Leben der Kirche wiederzuentdecken bedeutet auch, den Sinn der inneren Sammlung und Ruhe wiederzuentdecken. Die große patristische Überlieferung lehrt uns, dass die Geheimnisse Christi an die Stille gebunden sind, und nur in ihr kann das Wort Raum in uns finden, wie in Maria, die zugleich Frau des Wortes und der Stille ist – diese Aspekte sind in ihr nicht voneinander zu trennen« (Nr. 66). Dieses Prinzip – dass man ohne das Schweigen nicht hört, nicht zuhört, kein Wort empfängt – gilt vor allem für das persönliche Gebet, aber auch für unsere Gottesdienste: Um echtes Hören zu erleichtern, müssen sie auch reich sein an Augenblicken des Schweigens und der nichtverbalen Aufnahme. Was Augustinus gesagt hat, gilt noch immer: »Verbo crescente, verba deficiunt —Wenn das Wort Gottes wächst, werden die Menschenworte weniger« (vgl. Sermo 288,5: PL 38,1307; Sermo 120,2: PL 38,677). Die Evangelien legen oft dar, dass Jesus, vor allem bei wichtigen Entscheidungen, sich ganz allein von der Menge und auch von den Jüngern an einen einsamen Ort zurückzieht, um in der Stille zu beten und seine Sohnesbeziehung zu Gott zu leben. Die Stille ist in der Lage, einen inneren Raum tief in uns selbst zu schaffen, um Gott dort wohnen zu lassen, damit sein Wort in uns bleibt, damit die Liebe zu ihm in unserem Geist und in unserem Herzen verwurzelt ist und unser Leben beseelt. Das also ist die erste Richtung: die Stille wieder zu erlernen, die Offenheit zum Hören, das uns für den anderen, für das Wort Gottes öffnet. Es gibt jedoch auch eine zweite wichtige Beziehung des Schweigens zum Gebet. Denn es gibt nicht nur unser Schweigen, das uns zum Hören des Wortes Gottes bereit macht, sondern oft stehen wir in unserem Beten dem Schweigen Gottes gegenüber, haben wir gleichsam ein Gefühl des Verlassenseins, scheint uns, dass Gott nicht hört und nicht antwortet. Aber wie bei Jesus ist dieses Schweigen Gottes kein Zeichen seiner Abwesenheit. Der Christ weiß gut, dass der Herr anwesend ist und zuhört, auch in der Finsternis des Schmerzes, der Ablehnung und der Einsamkeit. Jesus versichert den Jüngern und einem jeden von uns, dass Gott in jedem Augenblick unseres Lebens unsere Nöte gut kennt. Er lehrt die Jünger: »Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet« (Mt 6,7-8). Ein aufmerksames, stilles, offenes Herz ist wichtiger als viele Worte. Gott kennt uns im Innersten, besser als wir selbst, und liebt uns: Und das zu wissen muss genügen. In der Bibel ist die Erfahrung des Ijob in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam. Dieser Mann verliert innerhalb kürzester Zeit alles: Familienangehörige, Besitz, Freunde, Gesundheit; es scheint, dass Gottes Haltung ihm gegenüber das Verlassen, das völlige Schweigen ist. Dennoch spricht Ijob in seiner Beziehung zu Gott mit Gott, er schreit zu Gott: In seinem Gebet bleibt sein Glaube trotz allem unversehrt, und am Ende entdeckt er den Wert seiner Erfahrung und des Schweigens Gottes. Und so wendet er sich am Ende an seinen Schöpfer: »Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; / jetzt aber hat mein Auge dich geschaut« (Ijob 42,5): Wir alle kennen Gott gleichsam nur vom Hörensagen, und je offener wir für sein Schweigen und für unser Schweigen sind, desto mehr beginnen wir, ihn wirklich kennenzulernen. Dieses äußerste Vertrauen, das sich zur tiefen Begegnung mit Gott hin öffnet, reift im Schweigen heran. Der hl. Franz Xaver betete zum Herrn: Ich liebe dich, nicht weil du mir das Paradies schenken oder mich zur Hölle verdammen kannst, sondern weil du mein Gott bist. Ich liebe dich, weil du du bist. Während wir uns dem Abschluss der Reflexionen über das Beten Jesu nähern, kommen einige Lehren des Katechismus der Katholischen Kirche in den Sinn: »Das Ereignis des Betens wird uns vollständig geoffenbart im Wort, das Fleisch geworden ist und das unter uns wohnt. Das Gebet Christi so zu verstehen, wie seine Zeugen es uns im Evangelium verkünden, bedeutet, sich Jesus, dem Herrn, als dem brennenden Dornbusch zu nähern: Zunächst betrachten wir, wie er betet, dann hören wir, wie er uns beten lehrt, und schließlich erkennen wir, wie er unser Gebet erhört« (Nr. 2598). Und wie lehrt Jesus uns beten? Im Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche finden wir eine klare Antwort: »Jesus lehrt uns beten nicht nur durch das Gebet des Vaterunser, sondern auch durch sein eigenes Beten. Auf diese Weise zeigt er uns neben dem Inhalt auch die Haltungen, die für das wahre Gebet erforderlich sind: ein reines Herz, welches das Reich Gottes sucht und den Feinden vergibt; das kühne, kindliche Vertrauen, das über unser Fühlen und Verstehen hinausgeht; die Wachsamkeit, die den Jünger vor der Versuchung bewahrt« (Nr. 544). Indem wir die Evangelien durchgegangen sind, haben wir gesehen, dass der Herr für unser Beten Gesprächspartner, Freund, Zeuge und Lehrer ist. In Jesus offenbart sich die Neuheit unseres Dialogs mit Gott: das kindliche Beten, das der Vater von seinen Kindern erwartet. Und von Jesus lernen wir, dass das ständige Beten uns hilft, unser Leben zu deuten, unsere Entscheidungen zu treffen, unsere Berufung zu erkennen und anzunehmen, die Begabungen zu entdecken, die Gott uns geschenkt hat, täglich seinen Willen zu tun, als einzigen Weg zur Verwirklichung unserer Existenz. Uns, die wir oft besorgt sind um die tatsächliche Wirksamkeit und die konkreten Ergebnisse, die wir erzielen, zeigt das Beten Jesu, dass wir innehalten und Augenblicke der Vertrautheit mit Gott leben müssen, indem wir uns vom täglichen Lärm »loslösen«, um zu hören, um zur »Wurzel« zu gelangen, die das Leben erhält und nährt. Einer der schönsten Momente des Gebets Jesus ist der, als er sich, um den Krankheiten, Schwierigkeiten und Grenzen seiner Gesprächspartner zu begegnen, im Gebet an seinen Vater wendet und so jene, die bei ihm sind, lehrt, wo man die Quelle suchen muss, um Hoffnung und Heil zu erlangen. Ich habe bereits als bewegendes Beispiel das Beten Jesu am Grab des Lazarus erwähnt. Der Evangelist Johannes berichtet: »Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast. Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!« (Joh 11,41-43). Die größte Tiefe in seinem Beten zum Vater erreicht Jesus im Augenblick des Leidens und des Todes, in dem er das endgültige »Ja« zum Plan Gottes spricht und zeigt, dass der menschliche Wille gerade in der völligen Zustimmung zum göttlichen Willen und nicht im Widerspruch seine Erfüllung findet. Im Beten Jesu, in seinem Rufen zum Vater am Kreuz, »liegt alles Elend der Menschen aller Zeiten, von Sünde und Tod geknechtet, und jede Bitte und Fürbitte der Heilsgeschichte. Der Vater nimmt sie alle an und erhört sie in einer Weise, die über alle menschliche Hoffnung hinausgeht, durch die Auferweckung seines Sohnes. Darin erfüllt und vollendet sich der Weg des Gebetes in der Schöpfungs- und der Erlösungsordnung« (Katechismus der Katholischen Kirche, 2606).
Liebe Brüder und Schwestern, bitten wir den Herrn voll Vertrauen, den Weg unseres kindlichen Gebets zu leben, indem wir täglich vom einzigen Sohn, der wie wir Mensch geworden ist, lernen, wie wir uns an Gott wenden sollen. Die Worte des hl. Paulus über das christliche Leben im Allgemeinen gelten auch für unser Beten: »Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (Röm 8,38-39).